Von Redaktion Pólemos

Die Mordtaten des 7. Oktober, die Massaker der palästinensischen Banden im Süden Israels sind so brutal, dass man die Lektüre jeder Beschreibung sofort beenden möchte, so barbarisch, dass eine Nacherzählung der Gewalt nicht über die Lippen oder aufs Papier geht. Aber die Lüge beginnt dort, wo nicht mehr erzählt wird, was war. Ohne Einblick in die Gräueltaten vom 7. Oktober können auch die Voraussetzungen dessen, was geschah, nicht kritisiert oder auf einen Begriff gebracht werden. Ohne Konfrontation mit den Taten droht man denen auf den Leim zu gehen, die sie leugnen, verharmlosen oder feiern.

Ein Freiwilliger der Organisation Zihuy Korbanot Ason (ZAKA), die nach Unfällen und Terroranschlägen nach religiösen Vorstellungen Leichen birgt, berichtet auf einer Pressekonferenz vom Einsatz im Kibbuz Beeri am 7. Oktober:

„We went in. The first house we saw there was a couple, father and mother, sitting on their knees on the floor. They were on their knees, now they were head down, hands tied to the back. On the other side of the dining room, it wasn’t the living room, it was the dining room, whatever, was a seven year old boy and a girl, I would say about six years old, sitting just against the parents. Hands tied to their back, same position. The bodies were tortured. While, now I start using my imagination. Who was tortured before? Who saw…, if this was on purpose, if this was the children looking at the parents being tortured, the parents seen…and when I say tortured, I will say: Missing body pieces. An Eye. Just taken out an eye. One Eye. Fingers. Fingers been…. All this happened, and at the end, they all had a bullet hole in the back. And – its still not finished – in the middle there is a table. Those terrorists were sitting and eating the Saturday meal that was prepared for this family and was prepared for this family they just took it, they were hungry propaply, they took it and they ate this meal while torturing this children and this parents. Three of my – I broke. I blanked out. (…).”(1)

Was bleibt sind die Überlebenden und Angehörigen. Gegenüber CNN berichtete eine Frau, deren 18jährige Tochter von den Mördern der Hamas ermordet und deren 49jähriger Mann in den Gaza-Streifen entführt wurde, von ihren beiden überlebenden Kindern im Alter von neun und elf Jahren, die an der Beerdigung ihrer großen Schwester teilnahmen: „It was a closed casket of course, you couldn’t see it and they wanted to hug her. They wanted just pet her, her curls, and hold her. And they admired her, she was a loving kind, a ray of light, she was pure, pure good. Seriously, she was so good. I don’t understand how can you kill – its like killing a unicorn. You can never kill a unicorn.”(2)  Im israelischen Fernsehen spricht die Schoa-Überlebende und nun auch Überlebende des 7.Oktober, Sarah Fishbein, die den Mördern aus dem Gaza-Streifen nur knapp entkam, während ihre Enkelin ermordet wurde: „Warum bin ich als 94jährige noch am Leben und meine Enkelin wurde so brutal ermordet? Das frage ich immer wieder und ich will die schreckliche Art vergessen, auf die sie missbraucht wurde bevor die sie getötet haben. Ich möchte, dass es aufhört sich in meinem Kopf zu wiederholen.“(3)

Islamistische Rackets und Antisemitische Gewalt: Zum Kontext des 7. Oktober

Um sich mit den grauenvollen Terrorangriffen vom 7. Oktober auseinandersetzen zu können, braucht es einen Blick auf ihren Kontext. Ausgegangen sind Taten wie die beschriebenen von einem Proto-Staat, den die Hamas im Gaza-Streifen errichtet hat: Sie hat in festen Grenzen die Herrschaft über den Küstenstreifen inne, sie stellt (mit Hilfe internationaler Hilfsorganisationen, aber auch das ist nichts ungewöhnliches) den Einwohnern des Küstenstreifens öffentliche Güter wie ein Gesundheits- und Bildungssystem zur Verfügung. Lediglich die Souveränität nach Außen fehlt ihr. Diese Proto-Staatlichkeit wird in der weltweiten Debatte über ein Ende der zum Nahost-Konflikt verharmlosten antisemitischen Gewalt gerne ignoriert. Nur wenn so getan wird, dass die Einwohner Gazas diskriminierte Bürger Israels seien, kann dem jüdischen Staat Apartheid vorgeworfen werden. Nur wenn man von den quasi-staatlichen Strukturen in den Händen der Hamas völlig absieht, kann die Mär aufrechterhalten werden, durch die Gründung eines palästinensischen Staates mit voller Souveränität auch nach Außen würde plötzlich Frieden in die Region einkehren.

Der Proto-Staat im Gaza-Streifen basiert auf einer Rentier- und Racket-Ökonomie (4). Anders als andere nationale Rentier-Ökonomien basiert diese nicht auf Ressourcen wie Öl oder Gas, die man mit geringem Aufwand fördern, exportieren und die so erzielten Gewinne unter dem geneigten Klientel verteilen könnte. Was die Hamas unter den Augen Israels in Gaza in den letzten Jahren unter die nationale Umma brachte war die Entwicklungshilfe westlicher und die direkte Unterstützung arabischer und islamischer Staaten. Damit diese sogenannten „sekundäre Renten“(5) fließen, muss der Konflikt am Köcheln gehalten, das Elend in den palästinensischen Gebieten reproduziert und die Gewalt gegen den jüdischen Staat Israel ständig fortgeführt werden. Das Agieren des Palästinenser-Flüchtlingshilfswerks UNRWA ist das deutlichste Beispiel für diese Verewigung des Elends. Die sich andeutende Aufnahme diplomatischer Beziehungen von mehr und mehr arabischen Staaten mit Israel ist hingegen eine akute Bedrohung dieser Rentier-Ökonomie. Auch dieser Politik galt der Angriff der Hamas.

Doch über ein Gewaltmonopol, über einen einheitlichen Herrschaftsapparat im Protostaat Gaza verfügt die Hamas nicht. Das zeigte nicht zuletzt der Angriff auf Israel am 7. Oktober: In den Verhandlungen über eine Freilassung der Geiseln im Tausch gegen inhaftierte Terroristen musste die Hamas zähneknirschend zugeben, dass sie nicht weiß, wo sich alle Geiseln befinden und wer sie eigentlich entführt hat (6). Ihre Verhandlungsposition dürfte das verschlechtert haben. Islamischer Djihad, Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden und nicht zuletzt erhebliche Spaltungen innerhalb der Hamas selbst multiplizieren die Protostaatsgewalt im Innern des Gaza-Streifens. Wo die Angriffe der Hamas und anderer am 7.10. an ein Pogrom erinnerten, lag das auch an dieser Racket-Struktur im Gaza-Streifen.

Diese Verbindung von Rentier- und Racket-Ökonomie im Proto-Staat Gaza wirkt sich auf die Konstitution der Gesellschaft und die individuelle Verfasstheit der Bürger aus. Der politische Islam ist nicht rein zufällig oder lediglich aus Tradition in dieser Gesellschaft so erfolgreich. Er hilft den Gläubigen, die ihre Arbeitskraft kaum verkaufen können, sich in ihrer ökonomischen Situation einzurichten, auch ohne produktiv im Sinne des Kapitals sein zu müssen (7). Er stabilisiert die familiären Strukturen zur Verteilung der Gewinne im Innern und sichert ideologisch die Verbindungen nach Außen, nach Qatar und in den Iran, ohne die ein Großteil dieser Gewinne nicht zu erzielen wäre. Es kommt zu einer Islamisierung der Racket- und Rentier-Ökonomie, bei gleichzeitiger Racketisierung und – wie man am 7. Oktober einmal mehr sah – permanenten Brutalisierung des politischen Islams. Denn für die Popularität in der islamistischen Internationalen konkurriert man mit IS und Taliban um die grausamsten Bilder. Auch vor diesen Gruppen wollten sich die Mörder vom 7. Oktober beweisen.

In Anbetracht dieser islamistischen Konkurrenz nach Außen garantiert nicht zuletzt der Antisemitismus sowohl die relative und zumindest punktuelle Einheit der Rackets (8) innerhalb des Gazastreifens als auch die Rente aus der Welt. Er spielt gemeinsam mit einem häufig national-islamisch konnotierten Opfer- und Märtyrermythos, der Geringschätzung des diesseitigen Lebens sowie Expansions- und Missionierungsgelüsten eine erhebliche Rolle bei der Legitimierung von islamistischer, genozidaler Gewalt nicht nur, aber insbesondere gegen Juden. Der gemeinsame Feind Israel lässt die Feindschaft zwischen Islamischer Djihad, Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden, PFLP und anderen kurz in den Hintergrund treten. Zugleich wäre es wohl undenkbar, dass die Palästinenser die gleiche finanzstarke Pseudo-Solidarität erführen, wenn ihre Angriffe nicht ungläubigen Juden, sondern einem muslimischen Nachbarstaat gelten würden.

Die Individuen können dieser islamisierten Racket-Gesellschaft nicht entkommen. Für die Psychologie der Einwohner Gazas als Racketeers (9) bedeutet das einen erheblichen Druck zur unmittelbaren Identifikation mit der Macht sowie zur bewussten Anpassung an die Herrschaft der Rackets. Kritische Reflexion ist kaum möglich, wenn bereits Distanz zu den Führern der Rackets mit dem Verlust der Existenzsicherung sanktioniert werden kann. Zweckrationales Verhalten muss sich an die Racket- und Rentierökonomie anpassen. Die Familie ist kein Gegenstück zu dieser Racket-Gesellschaft, sie ist als Großfamilie (‚Clan‘) längst in die Racket-Struktur eingegliedert. Nicht ohne Grund überlegt die israelische Regierung, nach dem Krieg die Macht im Gaza-Streifen an von der Hamas-distanzierte Clans zu übertragen, und so die familiarisierte Racketstruktur für sich nutzbar zu machen (10).

Das Lachen der Hamas

Welche Rolle der Antisemitismus für die Psychologie dieser Racketeers spielt, wurde am 7. Oktober sichtbar. Denn ohne die Bestimmung eines absoluten Feindes, wie sie der Antisemitismus im Juden liefert, ist die Gewalt wohl kaum denkbar. Sie geht aber darin auch nicht völlig auf, und die grausamen Taten müssen genauer betrachtet werden, will man etwas zur Frage erfahren, wie sie möglich wurden.

Über den eliminatorischen Angriff vom 7.10., über die Massaker im israelischen Kernland ist auch deswegen so viel bekannt, weil die Mörder sich bei ihren Taten filmten: Die GoPro lief mit, als man in die Kibbuzim eindrang und arglose Menschen abschlachtete. Wo keine Actionkamera zur Hand, nutzten die Täter auch die Handys der Opfer und streamten beispielsweise die Ermordung einer Frau auf deren Facebookprofil – vor den Augen ihrer Enkel. Das erinnert an die Terroranschläge von Christchurch oder Halle, bei denen die Täter ihre Morde ebenfalls live übertrugen. Diese neue Form der Inszenierung des Mordens führt bei den Mördern zu einer Derealisierung der eigenen Taten, die eine weitere Brutalisierung zumindest begünstigt: Man passt die Ästhetik der eigenen Gewalt den Gewaltdarstellungen aus Videospielen an. Was im Spiel möglich ist, kann plötzlich in der Realität wiederholt werden – auch gerade, wenn das Spiel die eigenen Gewaltphantasien nicht mehr zu befriedigen vermag. Längst werben auch Armeen, darunter die Bundeswehr, mit der Gaming-Ästhetik. Der Islamische Staat verbreitete in Anlehnung an eine berühmte Videospiel-Reihe und an die Möglichkeit, nach dem Spieltod neu in das Spiel einzusteigen, Grafiken mit Aussagen wie „This is our call of duty and we respawn in jannah“ (11). Sowohl bei den Nazi-Mördern aus Neuseeland und Deutschland, als auch insbesondere im Falle der Vervielfachung dieser Technik durch die Terroristen von Hamas und Islamic Djihad hat das Live-Streamen und Filmen der eigenen Taten aber auch einen bestätigenden Charakter: Vor der Kamera darf man nicht versagen, darf keine Schwäche, kein Erbarmen mit den Opfern zeigen. Die Tat wird durch das Medium sofort vergemeinschaftet. Diese Form der Dokumentation entspricht der psycho-sozialen Vergesellschaftung im Gaza-Streifen, die eine reflektierte Trennung zwischen Ich und Familie erschwert.

Das Live-Streaming des Mordens setzt freilich ein Publikum voraus, welches sich in Anbetracht der Gewalt nicht entsetzt abwendet, sondern die Ermordung wehrloser Opfer beklatscht, noch die grausamsten Exzesse feiert und sich mit den Mördern identifizieren will. Durch Point-of-View-Shoots der Killer fühlt man sich in deren mörderischen Shootings hineinversetzt, fiebert und feiert mit. Die Attentäter von Halle und Christchurch fanden dieses Publikum in rechtsextremen und männerbündischen Gaming-Foren, die Attentäter von Nir Am, Cholit, Alumim, Jad Mordechai, Erez, Kfar Aza, Ein HaShlosha, Nahal Oz, Be’eri, Kissufim, Reʿim, Nir Oz, Kerem Schalom, Zikim, Sufa, Magen, Karmiya und Mefalsim, Netiv HaAsara, von Sderot und Ofakim hingegen in den ganzen palästinensischen Gebieten. Auch nach den Massakern vom 7. Oktober und der vehementen militärischen Reaktion Israels im Anschluss, hielten in einer Umfrage mehr als 60 % der Palästinenser den bewaffneten Kampf gegen Israel für das Beste Mittel zur Erreichung der eigenen Ziele, während nur 10 % der Ansicht waren, die Hamas habe an jenem Tag Kriegsverbrechen begangen (12).

Das Filmen der Taten zielt aber nicht lediglich auf die Selbstvergewisserung und Brutalisierung der Täter, sie ist auch der Schlüssel dafür, warum die Identifikation insbesondere bei vielen Muslimen und der globalen Linken so groß ist. Nicht obwohl die Hamas und andere Banden derart grausame Massaker verübt haben werden sie entschuldigt oder gefeiert, sondern weil ihre Taten zugleich grausam wie gut dokumentiert sind. Nicht zuletzt in der Herstellung von Gefolgschaft besteht der schreckliche Nutzen der Dokumentation der Verbrechen durch die Täter selbst. Das betrifft nicht nur den Konkurrenzkampf der islamistischen Gruppen um die grausamsten Bilder. Die so schamlos dokumentierten Taten sind so brutal, dass eine Identifikation mit den Opfern nahezu unmöglich wird. Es ist schlicht nicht denk- und aushaltbar, dass einem selbst das passiert, was die Zaka-Freiwilligen, die trauernde Mutter im CNN-Interview oder die Überlebende Sarah Fishbein berichten. Und so wenden sich Umma und Linke der Hamas und ihren Konsorten zu im Drang zur kollektiven Identifikation. Die trotz aller Privilegien-Selbstbezichtigung tief empfundene Ohnmacht in Anbetracht der Verhältnisse unter Staat und Kapital wird selbst im Moment des extremsten Machtverhältnisses noch auf die Vernichtungskrieger der Hamas projiziert: Deren tausendfacher Mord an wehrlosen Zivilisten wird als Empowerment gefeiert. Die Identifikation mit den ohnmächtigen, ja lediglich reaktiven Mördern und die Empathielosigkeit gegenüber den Opfern wird zusammengehalten von der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr: Wie böse müssen die Juden sein, dass wir ihnen so etwas antun?

Die Filme der Täter, aber auch zahlreiche Berichte von Überlebenden bezeugen die gute Laune, die regelrechte Ekstase auf Seiten der Mörder und Vergewaltiger. Lachen können die Täter, weil sie wissen – und durch die filmische Dokumentation sich dessen weiter versichern – dass ihnen von ihren Autoritäten keine Strafe droht, sondern Gratifikation winkt. Aus dem Lachen der Mörder spricht der Spannungsabbau: Die post-pubertäre Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Natur wird mörderisch bearbeitet, indem man sich durch brutalste Tötungsmethoden, durch Verstümmelungen der Opfer vor und nach der Tat der eigenen Lebendigkeit und Naturhaftigkeit versichert (13).

Dies zeigt sich auch an einem weiteren Publikum, dass sich die Täter in nicht vorstellbarer Grausamkeit organisierten: Die Familienangehörigen der Opfer. Vor diesen lachten die Täter nicht nur, sie wollten auch, dass jene ihnen beim Essen der von ihnen zubereiteten Speisen, beim Foltern und Morden der Eltern und Großeltern, Kinder und Enkel, Brüder und Schwestern zusahen. Die Tante einer befreiten minderjährigen Geisel berichtete im französischen Fernsehen, gefangene Kinder seien von der Hamas gezwungen worden, Videos der Gewaltexzesse vom 7. Oktober anzuschauen (14). Das ist kein Zufall. Das kollektive Selbstmordattentat vom 7. Oktober diente den Terroristen wie andere vor ihm wohl auch dem Entfliehen der ödipalen Konstellation. Zum einen, indem die Mörder als Märtyrer zu den Autoritäten der familiären Rackets aufschließen können, ohne diese wirklich zu Bedrohen. Zum anderen werden ödipale Konflikte an den Opfern ausagiert, Rache an den eigenen Eltern und Selbsthass angesichts der Machtlosigkeit in der Familie sind Antrieb, um so wahnhaft wie projektiv Kinder vor ihren Eltern oder Eltern vor ihren Kindern zu foltern und zu töten. Der gesellschaftlich und familiär betriebene Märtyrerkult ist zugleich eine gesellschaftlich honorierte Form der elterlichen Todesdrohung: Regretting Fatherhood in seiner extremsten Form. Und so konnten sich die Djihadisten vom 7. Oktober noch in ihrer Rache an den Eltern mit deren Wünschen gemein machen, wie der von Israel aufgezeichnete Anruf eines der Hamas-Vernichtungskriegers noch aus dem Kibbuz Mefalsim deutlich machte: „Dein Sohn hat gerade Juden getötet, Papa. (…) Öffne WhatsApp und schau es Dir an!“ (15) Diese Konstellation wird ökonomisch abgesichert durch die Märtyrerrenten für die Hinterbliebenen antisemitischer Mörder – ein Budgetposten im Haushalt der palästinensischen Proto-Staaten, der mit Hilfe internationaler Unterstützung nach Ende des gegenwärtigen Krieges massiv anwachsen wird, sollte Israel dem nicht Einhalt gebieten können.

Hinter dem Ruf nach Kontext verschanzen sich die Mörder

Die akademisch und gesellschaftlich akzeptierte Variante der erwähnten Schuldzuweisung für die eigene Ermordung und Verschleppung an die Juden – Wie böse müssen die Juden sein, dass wir ihnen so etwas antun? – ist der vehement vorgetragene Wunsch nach einer „Kontextualisierung“ des Massakers. Für die Forderung nach Beachtung des Kontexts gilt die Weisheit von der Lüge, die so falsch ist, dass nicht mal ihr Gegenteil stimmt.

Denn die Kontextalisierer der Massenmorde vom 7. Oktober wollen nichts wissen von islamistischer Ideologie, von der Konkurrenz der Gewalt zwischen islamistischen Rackets. Sie wollen nichts hören vom eliminatorischen Antisemitismus palästinensischer Banden, der sich seit Jahren ständig manifestiert, sei es in den Morden von Itamar 2011, in den Selbstmordattentaten der 2. oder den Meuchelmorden der Messerintifada. Sie wollen nicht sprechen über die extreme Grausamkeit der Hamas-Barbaren, die ohne eine konstante De-Humanisierung, nicht schreiben über die sexualisierte Gewalt, die ohne eine antisemitisch grundierte Mysogonie nicht zu erklären ist. In den offenen Briefen dieser Wissenschafts-Aktivisten wird den Massakern nichtmal ein eigener Satz gewidmet: „Seit den Massakern der Hamas in Israel am 7.10.2023 und der darauf folgenden Kollektivbestrafung Gazas“ heißt es in einem offenen Brief „kritischer Wissenschaftler*innen“ wie Daniel Loick und Paul Mecheril „an die deutsche Politik und Öffentlichkeit“ (16). „The unconscionable violence of the October 7 attacks and the ongoing aerial bombardment and invasion of Gaza are devastating, and are generating pain and fear among Jewish and Palestinian communities around the world“ heißt es bei Bartov, Rothberg und anderen (17). Die Morde werden pflichtschuldig erwähnt, sie werfen bei diesen Holocaust-Forschern und Antisemitismus-Experten aber keine Fragen auf. Sie suchen nämlich keinen Kontext zur kritischen Bestimmung der Taten der Hamas, sonst kämen sie an politischer Ökonomie, Ideologie und Sozialpsychologie der Täter nicht vorbei. Diese kritischen Wissenschaftler suchen einen Anlass um zu thematisieren, was ihnen eigentlich ein Anliegen ist: die Ablehnung von Israels Existenz. „Seventy-five years of displacement, fifty-six years of occupation, and sixteen years of the Gaza blockade have generated an ever-deteriorating spiral of violence” schreiben Bartov et al. Loick und Kollegen verstecken sich in ihrem Ressentiment noch hinter Amira Hass, die sie zustimmend zitieren: Ihr Deutschen, so Hass, habt die sich aus dem Holocaust ergebende Verantwortung „verraten durch eure vorbehaltlose Unterstützung eines Israels, das besetzt, kolonisiert, den Menschen das Wasser wegnimmt, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen im Gazastreifen in einem überfüllten Käfig gefangen hält, Häuser zerstört, ganze Gemeinschaften aus ihren Häusern vertreibt und Siedlergewalt fördert.“

Der Wunsch nach Kontextualisierung hört bei den Taten der Juden auf: In welchen „politischen Rahmenbedingungen“ (Kritische Wissenschaftler) rechtsextreme Parteien und die Siedlerbewegung in Israel erstarkt sind, worauf die Vertreibungen von 1948, die Besatzung von 1967 und die Blockade von 2005 eine Reaktion war, gilt es zu verbergen. Das Agieren Israels muss man nicht kontextualisieren, es wirft keine Fragen auf, sondern ist schlechthin böse. Der Antisemitismus ist dem Antijudaismus darin ähnlich, dass er den Juden vorwirft, was er ihnen antut. Folterte man im Mittelalter Juden, um von ihnen Geständnisse zu erpressen, sie hätten den Herrgott in Form einer Hostie gefoltert, versucht man Israel vom Tag seiner Gründung an zu vernichten, um dem jüdischen Staat die erfolgreiche Verteidigung als koloniales Verbrechen oder jüngst als Genozid anzukreiden. Deutlich wird dieser Zynismus auch in der Argumentation von Bartov, Rothberg, und anderen in einem zweiten Beitrag (18): So schlimm die „schrecklichen Ereignisse“ vom 7. Oktober auch gewesen seien, eine existenzielle Bedrohung für Israel habe nicht bestanden, weiß man mit Verweis auf einen IDF-General zu verkünden. Das stimmt zweifellos für den 7. Oktober. Doch am mangelndem genozidalen Engagement der Bürger Gazas lag das nicht. Dass die koordinierten Angriffe vom Land, aus der Luft und vom Wasser so relativ schnell zurückgeschlagen werden konnten, war begründet nicht zuletzt in der Blockade des Gaza-Streifens, die seit Jahren eine noch massivere Aufrüstung der Hamas und damit am 7.10. einen noch schlimmeren Völkermord verhinderte.

Was den 7. Oktober in seiner Qualität von der Schoa abhebt, ist die Existenz des Staates Israels als „strongest power in the region“, da haben Bartov und Kollegen schon Recht. Aber eben nicht in dem Sinne, dass es ausschließlich die Gewalt dieses Staates war, welche die Verbrechen der Hamas und deren große Popularität in den palästinensischen Gebieten und der arabischen Welt möglich machten. „Anders als 1938 und 1941 gibt es heute einen jüdischen Staat, dessen vorrangiger Staatszweck darin besteht, zu verhindern, dass jemals wieder jemand die Gelegenheit haben wird, Millionen von Juden zu vernichten. (…) Der Staat Israel kann selbst die Sicherheit seiner Bewohner wieder herstellen; er kann und wird die Täter sanktionieren. Der genozidalen Gewalt der Hamas wurde ein Ende gesetzt, die Taten sind traumatisierend und der Schrecken für die israelische Gesellschaft hält in Anbetracht andauernder Entführungen, sterbender Soldaten und Raketenbeschuss an – doch allein dank des Staates Israel ist es kein neuerlicher Zivilisationsbruch.“(19)

Zum Kontext der Kontextualisierer

Die sich in den offenen Briefen manifestierende wissenschaftlich-aktivistische Agitation gegen den jüdischen Souverän selbst in Anbetracht massiver genozidaler Gewalt gegen seine Bewohner, seien sie nun Juden, Muslime oder Christen, wäre selbst zu kontextualisieren. Nicht zuletzt muss die Rolle akademischer Netzwerke betrachtet werden, deren Mitglieder mehr offene Briefe unterzeichnen als wissenschaftliche Publikationen vorlegen. Zum Teil ergibt sich das Ressentiment gegen den jüdischen Staat aber auch aus der begrifflichen Arbeit dieser Polit-Akademiker. So formuliert Daniel Loick, der Israel im oben zitierten offenen Brief u.a. eine vermeintliche Kollektivbestrafung des Gaza-Streifens und das Stehlen von Land vorwirft, eine Kritik der Souveränität, die auf den Begriff der Totalität verzichtet und Dialektik zur Ironie verharmlost (20). Mit dem „wahrheitstheoretischen Ballast“ dialektischer Kritik (21) verwirft er auch das kritische Potential der Kritischen Theorie insgesamt und so wundert es kaum, dass Loick zwischen dem Völkermord der Hamas und der Selbstverteidigung des israelischen Souveräns maximal den Unterschied erkennen kann, dass Letzterer Schuld am Ersteren ist. Wer von der Totalität unter Staat und Kapital und der Verstrickung der Individuen in diese schweigt, der muss Widersprüche zu Ironien, Kritik der politische Gewalt im Innern der Staaten zur „Kritik der Polizei“(22) und Kritik der Souveränität eben zur „Kritik“ jüdischer Souveränität verniedlichen.

Anders Michael Rothberg. Der vielbeachtete Verfechter eines Konzepts der „Multidirektionalen Erinnerung“ warnt gemeinsam mit anderen im oben zitierten offenen Brief davor, sich bei der Wahrnehmung des aktuellen Krieges auf die Erinnerung an den Holocaust zu berufen. In seiner Essaysammlung „Multidirektionale Erinnerung“ hatte Rothberg noch geschrieben: „Im Gegensatz zu einer Konzeption, die kollektive Erinnerung als einen Fall von Erinnerungskonkurrenz – als Nullsummenspiel und Kampf um knappe Ressourcen – begreift, schlage ich vor, dass wir Erinnerung als multidirektional verstehen: als Erinnerung, die ständigen Aushandlungen, Quervergleichen und Anleihen unterworfen und dabei produktiv und nicht ablehnend ist.“(23) Produktiv erscheint es ihm, wenn in das berühmte Foto des Jungen, der im Warschauer Ghetto mit erhobenen Händen abgeführt wird, ein Bild von einem palästinensischen Jungen, ebenfalls mit erhobenen Händen, hineinmontiert wird. Produktiv ist es jedoch nicht, wenn genozidale Gewalt gegen Juden im Jahr 2023 in ein Verhältnis zum Genozid an Juden im Jahr 1941 gesetzt wird. Das Produkt, um das es Rothberg geht – und das macht seine Unterzeichnung des offenen Briefes einmal mehr deutlich – ist die Abschaffung Israels. Der Nutzen für die Herstellung dieses Produkts ist der Maßstab, an dem die multidirektionale Erinnerung gemessen wird.

Fragen nach dem 7. Oktober

Die Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 werfen Fragen auf, welche in Europa, in Deutschland, in der globalen Linken und anderswo nicht gestellt werden und welche der jüdische Souverän ganz unironisch zu beantworten gezwungen ist. Das Desinteresse an diesen Taten wird flankiert von einem Verständnis für die Morde, welches durch die pflichtschuldige und uninteressierte Verurteilung der Massaker nicht kaschiert werden kann.

Die selektive Kontextualisierung der Morde zu Lasten Israels ist der Beitrag, den kritische Wissenschaftler zum antisemitischen Krieg gegen Israel beitragen. Dabei müssten die Fragen nach dem 7. Oktober doch eigentlich lauten, wie die polit-ökonomischen Grundlagen des Rentiers- und Racket-Protostaats Gaza, wie die Racketisierung und permanente Brutalisierung des politischen Islams, wie die Konkurrenz antisemitischer Banden gestoppt werden könnte, damit sich der 7. Oktober nicht wiederholen kann. Die Antworten auf diese Fragen und die unter den Maßgaben von Staat und Kapital vollzogene Vergesellschaftung der Individuen sind der Kontext, in welchem Israel seine jüdischen Bürger vor antisemitischer Gewalt zu schützen versucht.

Anmerkungen:

  1. www.youtube.com/watch?v=V_rFWDZd86E .
  2. https://twitter.com/adammaanit/status/1720782383996088349 .
  3. Eigene Übersetzung der englischen Untertitelung unter https://twitter.com/EylonALevy/status/1719668226068549635 .
  4. Zum Begriff Mayer, Florian (2006): „Zur Bedeutung von Renteneinnahmen für die politische und ökonomische Entwicklung der MONA-Region: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.“, In: Friedrich-Ebert-Stiftung: Hintergrundinformationen aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. https://library.fes.de/pdf-files/iez/04276.pdf .
  5. Ebd., S. 2.
  6. www.reuters.com/world/middle-east/hamas-armed-wing-spokesman-fate-many-hostages-unknown-2024-01-14/ .
  7. Vgl. Scheit, Gerhard (2004): Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt. Freiburg, S. 426 ff.
  8. Vgl. Fuchshuber, Thorsten (2019): Rackets. Kritische Theorie der Bandenherrschaft. Freiburg, S. 477.
  9. Vgl. ebd., S. 367ff.
  10. www.timesofisrael.com/idf-shin-bet-said-to-favor-palestinian-clans-temporarily-administering-gaza.
  11. Zit.n. Puls, Hendrik (2020): „‚Gamificationd es Terrors‘. Ein Brauchbarer Begriff um rechtsterroristische Anschläge zu beschreiben?“. NFG020 Working Paper #3. http://nfg-rexdel.de/images/Working_Paper_3.pdf .
  12. www.n-tv.de/politik/Hamas-ist-nach-dem-Massaker-deutlich-beliebter-article24598513.html .
  13. Vgl. dazu Theweleit Klaus (2021): Das Lachen der Täter: Breivik u.a.. Psychogramm der Tötungslust. Salzburg.
  14. https://twitter.com/BFMTV/status/1729403008834801972 .
  15. Twitter-Kanal des israelischen Außenministeriums, https://twitter.com/Israel/status/1716866876418949602 .
  16. Brief aus Berlin – kritische Wissenschaftler*innen an die deutsche Politik und Öffentlichkeit. https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSdQexuMBpgFM3PK0DJUtRwYd1ZuKo3bIvsNrShXc11orOmzrA/viewform .
  17. An Open Letter on the Misuse of Holocaust Memory. www.nybooks.com/online/2023/11/20/an-open-letter-on-the-misuse-of-holocaust-memory.
  18. Zu lesen unter https://www.nybooks.com/online/2023/12/08/an-exchange-on-holocaust-memory/ .
  19. https://kritischetheorie.wordpress.com/2024/01/01/gegen-den-globalen-antisemitischen-krieg-fur-israel/ .
  20. Vgl. Loick, Daniel (2012): Kritik der Souveränität. Frankfurt, S. 22ff.
  21. Ebd., S. 24.
  22. Loick, Daniel (Hg.) (2018): Kritik der Polizei. Frankfurt.
  23. Rothberg, Michael (2021): Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Bonn, S. 27.