Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir hier einen Text von Daniel Poensgen, der im Frühjahr 2018 in Pólemos #08 erschienen ist. Das Heft ist noch verfügbar und kann hier bestellt werden.
„Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten“
Zur Verbindung von Waffenexportkritik und bewaffnetem Staat
Von Daniel Poensgen
Dass der Flüchtling zwar zweifellos, aber doch nur im Notfall willkommen geheißen, in der Regel jedoch abgeschafft gehört in dem Sinne, dass kein Mensch fliehen müssen sollte, diese Einsicht bleibt all jenen versperrt, die von der politisch-ökonomischen Vorteilsnahme Deutschlands aus der massenhaften Fluchtbewegung erst recht nichts wissen wollen. Als ‚Migrant‘ wird der Flüchtling zum ‚Normalfall‘, wo doch der unbegreifliche Skandal darin besteht, dass Menschen vor Hunger, Gewalt und Armut das Weite und die Fremde suchen müssen – ein Umstand, der wohl kaum zu vergleichen ist mit den tatsächlich seit je her alltäglichen Migrationsbewegungen über staatliche und sonstige Grenzen hinweg. Bezeichnend für die Verfasstheit Deutscher Ideologie im 21. Jahrhundert ist vor diesem Hintergrund nicht zuletzt die linke Reaktion auf die Zunahme der Flüchtlingsbewegungen im Spätsommer 2015, die bis heute ungebrochen anhält.
1.496 Mal wurde ein am 17. November 2015 veröffentlichter Facebook-Beitrag des ARD-Nachrichtenmagazins Monitor geteilt, in dem der Redakteur Georg Restle seinen Phantasien zum Umgang mit IS und Flüchtlingen freien Lauf ließ: „Es ist ein verlockender Gedanke: Terrornester irgendwo da draußen auszuräuchern, dem islamistischen Spuk mit Militärschlägen ein Ende zu bereiten. Ein Endkampf, der die Brut ausrottet, die immer wieder morden lässt. Ein Gedanke, so (…) beruhigend, weil er unsere niedersten Bedürfnisse von Rache und Vergeltung befriedigt und so bequem, weil er jeden weiteren Gedanken überflüssig macht. Die alttestamentliche Sehnsucht nach Ausrottung aller Gottlosigkeit, sie lässt uns auch in diesen Tagen nicht los, sie kleidet sich nur neu in Worte von ‚gezielten Militärschlägen‘ und ‚europäischer Solidarität‘. Aber es ist und bleibt ein Wunschgedanke, ein naiver Traum vom Endsieg über den Terror. (…) Es ist ein Krieg, den die Mordgesellen des ‚IS‘ herbeisehnen, weil er ihren apokalyptischen Untergangsphantasien entspricht, ihrer Vorstellung eines Dschihad, der die Welt in Flammen setzt“ (1). Es ist beileibe kein Zufall, dass sich die deutsche Presse einen Krieg gegen den IS nur wie einen Vernichtungskrieg der Wehrmacht vorstellen kann. Es ist ebenso wenig ein Zufall, dass man sich zwar lustvoll diesen Vernichtungskrieg ausmalt, ihn selbst aber vordergründig ablehnt – um ihn den Juden in die Schuhe schieben zu können. Nur vor dem Hintergrund des antisemitischen Jargons der Friedensfreunde und Israelkritiker entsprechen die wahnhaften Assoziationen der Monitor-Redaktion irgendeiner Logik: Das jüdische Prinzip – für Restle die „alttestamentliche Sehnsucht nach Ausrottung“ – „kleidet“ sich „auch in diesen Tagen“ „neu“, es steckt sowohl hinter der Forderung nach „europäischer Solidarität“ als auch mit dem IS unter einer Decke, wobei es wieder mal die „Welt in Flammen setzt“ beim Traum vom „Endsieg“. Doch Deutschland – und die deutsche Presse in Gestalt von Georg Restle – übernimmt zum Glück auch Verantwortung: „Indem wir den Opfern von Krieg, Armut und Verfolgung hier eine Zuflucht bieten, schaffen wir auch die Voraussetzung dafür, dass ein Wiederaufbau dort gelingen kann. Indem wir ihnen hier vermitteln, dass nur eine offene Gesellschaft eine wahre Perspektive bietet, schaffen wir Veränderung auch dort. Auch so entziehen wir den Ideologen einer mittelalterlichen Diktatur ihre irrwitzige Legitimationsbasis. Nicht heute, aber morgen.“ Ein Deutscher glaubt seine Lügen selbst, und so ist selbstverständlich keine Rede davon, dass die Aufnahme von Flüchtlingen der Erweiterung eines Niedriglohnsektors in der Bundesrepublik dient und mit ihr ein Konjunkturprogramm einherging, dass den Binnenmarkt des Exportweltmeisters belebte und einem gut ausgebildeten Klientel Arbeits- und Ehrenamtsplätze verschaffte, ohne dabei ökonomische Bedürfnisse dauerhaft zu befriedigen.
„Die staatlichen Leistungen für Geflüchtete wirken wie ein kleines Konjunkturprogramm, denn ultimativ kommen sie vor allem deutschen Unternehmen und Arbeitnehmern durch eine höhere Nachfrage zugute“, weiß beispielsweise Marcel Fratscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, zu berichten. Durch dieses Konjunkturprogramm sei das Wirtschaftswachstum 2016 um 0,3% gewachsen, der positive Effekt werde sich aber in den kommenden Jahren noch verstärken, wie er versichert (2). Die Willkommenskultur, auf die man sich landauf, landab so viel einbildet, ist in erster Linie die Einfühlung in eine Art Abwrackprämie 2.0. Die Vorstellung, man würde den Syrern „nicht heute, aber morgen“ im Kampf gegen den IS und andere islamistische Banden helfen, indem der gut ausgebildete syrische, irakische und afghanische Mittelstand in deutschen Altersheimen arbeitet und indem man den Leuten, die in liberale Gesellschaften fliehen, erklärt, warum liberale Gesellschaften gut sind, ist nichts anderes als die mühevolle Rationalisierung der deutschen Haltung in der Geopolitik: Andere Staaten – oder gar das blanke Überleben der Individuen – sind uns egal und wir verdienen gut damit, vehement das Gegenteil zu behaupten. Dass es sich hierbei nicht bloß um eine empirisch deutsche, also von der Bundesrepublik Deutschland vertretene geopolitische Haltung handelt, sondern eben auch um eine deutsche im Sinne der Deutschen Ideologie, wird nicht nur deutlich an den Ergüssen der staatstragenden Presse, sondern auch an der zweiten politischen Forderung, die sich im Rahmen des Sommers der Migration in der deutschen Linken und darüber hinaus stärker artikulierte: Die Forderung nach dem Ende deutscher Waffenexporte.
„Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten“, weiß ganz in diesem Sinne der Lehrer und Waffenexport-Experte Jürgen Grässlin vor 300 bedauernswerten Schülern des Beruflichen Schulzentrums Bietigheim-Bissingen zu berichten. Ihm und zahlreichen linken und christlichen Initiativen und Bündnissen ist völlig klar: „Die Flüchtlinge, die heute in Deutschland ankommen, haben alle etwas gemeinsam: Sie fliehen auch vor unseren Waffen“ (3). Und tatsächlich werden beispielsweise Gewehre, die in Deutschland produziert, zumindest aber entwickelt und deren Produktionslizenzen in zahlreiche Staaten verkauft wurden, von den unterschiedlichsten Akteuren in nahezu allen Konflikten der Welt verwendet. Dass die sogenannten „Endverbleibserklärungen“, die garantieren sollen, dass verkaufte Waffen nur beim Käufer bleiben und nicht weitergegeben oder -verkauft werden dürfen, wie sämtliche internationale Verträge bloße Konvention sind, leuchtet der Friedensbewegung zwar nicht begrifflich ein, fällt ihr aber nichtsdestotrotz völlig richtig auf. Nun ist Linkspartei, Pax Christi, Aktion Aufschrei und wie sie heißen mögen durchaus entgegenzuhalten, dass all dies die Waffen nicht zu ‚unseren‘ macht, da man schließlich mit jenen Friedensfreunden gar nicht gemein gemacht werden will und es außerdem in Bezug auf die exportierten Waffen recht klare Eigentums- und Besitzverhältnisse gibt. Diese zu Verschweigen dient nur der Entschuldigung der Mörder und bisweilen dem Übersehen der Retter. Welche Rolle ‚deutsche‘ Waffen tatsächlich in den Konflikten einnehmen, aus denen in den letzten Jahren Millionen Menschen nach Europa geflohen sind, wäre zudem erstmal aufzuzeigen. Und doch möchte man der reflexhaften und sicherlich in der Regel völlig zutreffenden Kritik ideologiekritischer und antideutscher Kreise an jener Friedensbewegung entgegenhalten, dass deren Wunsch, an den kriegerischen Verhältnissen zwischen Staaten und anderen Kriegsfraktionen in keiner Weise beteiligt sein zu wollen, allzu verständlich ist. Nicht mitmachen wollen beim Morden in der Welt, wäre gerade den Deutschen wohl kaum vorzuwerfen. Dass die Friedensbewegung dabei Gewalt immer nur dann zum Krieg adelt, wenn sie zwischen staatlichen oder proto-staatlichen Akteuren ausgetragen wird, unterscheidet sie dabei auch nicht von weniger friedensbewegten Teilen der Bevölkerung. In der Polemik gegen diese Kritik am Krieg bei gleichzeitigem Verschweigen anderer Formen von Gewalt geht jedoch verloren, dass sie zumindest implizit noch eine Ahnung vom Unterschied zwischen unvermittelter Gewalt und den bürgerlichen Formen, die auf Gewalt beruhen, umtreibt.
Was würde Jesus zu Waffen-Deals sagen?
Und doch vermag die Kritik an der Forderung, Waffenexporte zu verbieten, eine ideologische Konstellation aufzuzeigen, die typisch für den Deutschen als Staatsbürger ist. Sie ist viel weniger durch eine Verweigerung der persönlichen Beteiligung an der falschen Einrichtung der Gesellschaft als durch ein Engagement für eine bestimmte Sache – die deutsche – bestimmt, ein Engagement, dass sich als solches aber nicht zu erkennen gibt. Diese Kritik bleibt somit auch nicht bei der völlig marginalisierten Friedensbewegung und ihren publizistischen wie parlamentarischen Vorfeldorganisationen stehen – dass Waffenexporte aufhören sollen, ist den Deutschen insgesamt völlig einleuchtend. Einer Emnid-Umfrage zu Folge verneinten 83% der Deutschen die Frage, „einmal grundsätzlich betrachtet, sollte Deutschland ihrer Meinung nach Waffen und andere Rüstungsgüter in andere Länder verkaufen?“ (4). In der Bild-Zeitung fragt Margot Kässmann: „Was würde Jesus zu deutschen Waffen-Deals sagen?“ (5). Auch ohne Bibel-Beleg ist die Antwort wenig überraschend: „Er hat die Friedensstifter selig gepriesen, keineswegs die Waffenproduzenten und die Rüstungslobby.“ Im verzweifelten Wahlkampf versucht sich die SPD als Oppositionspartei, auch wenn ihr staatstragendes Agitieren gegen den Waffenhandel etwas zahnlos wirkt: Sigmar Gabriel traut sich dann auch nicht mehr als eine stärkere Beteiligung des Bundestags bei der Genehmigung vom Verkauf von Rüstungsgütern zu fordern: „Es braucht keine Geheimniskrämerei“ (6).
Auffallend an der Forderung sind vor allem drei Dinge: Zum einen wird das Ende der Waffenexporte als probates Mittel zur Lösung von Konflikten weltweit betrachtet. Wenn die Konfliktparteien erstmal keine Waffen mehr besitzen, so die bestechende Logik des gesunden Menschenverstandes, können Sie auch keine Kriege mehr führen und müssen miteinander in den viel gerühmten Dialog treten – ein Dialog, der im Übrigen als quasi zwischenstaatlicher ohne das jeweils zur Verfügung stehende Vernichtungspotential der Konfliktparteien gar nicht gedacht werden kann, jedoch permanent als gewaltfrei affirmiert wird. Ist die Wirkung der Verfügbarkeit von bestimmten Waffen auf bestimmte Konflikte gar nicht zu bestreiten, ist die Logik der Waffenexport-Kritik vor allem deshalb interessant, weil andere Forderungen zur Beendigung beispielsweise des Syrien-Krieges überhaupt nicht mehr zum Tragen kommen. Mit dem Ende der Waffenexporte (und den Integrationskursen für Flüchtlinge) scheint das Problem erledigt. Zum zweiten ist die Forderung nach dem Export-Stopp generell: Details, wer in welchem Umfang welche Waffen bezieht, interessieren in der Bewertung auf Seiten wie http://www.waffenexport.org nicht, auch wenn man den geneigten Leser mit einer wahren Flut von Zahlen und Statistiken zu überzeugen versucht. Tatsächlich skandalöse und politisch irrwitzige Waffenverkäufe gehen im Wust der Empörung völlig unter. Den Gegnern der Waffenexporte sind die nach Litauen gelieferten Jagdgewehre ein ebenso großer Skandal wie die Auslieferung einer Fregatte nach Algerien (7). Die einzige Forderung, die die Kampagne Aktion Aufschrei formuliert, lautet: „Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter werden grundsätzlich nicht exportiert“ (8). Es geht prinzipiell ums Prinzip, aber eben doch nur im Prinzip: Besonders auffallend ist in der Kritik der Waffenexporte nämlich drittens, dass sie eben nicht generell gegen die Rüstungsindustrie gerichtet ist, sondern sich lediglich auf die Exporte beschränkt. Die Produktion hingegen wird völlig außer Acht gelassen. Die deutsche Friedensbewegung hat nichts dagegen, wenn in Deutschland Waffen gebaut werden, sie will sie nur nicht abgeben – egal, an wen. So taucht beispielsweise in den Schritten auf dem Weg zur Erfüllung der oben zitierten Forderung der Aktion Aufschrei frei nach dem Motto ‚Schwerter zu Windkraftanlagen‘ die „Umstellung der Rüstungsindustrie auf nachhaltige [!] zivile Produkte“ erst als letzter von sechs Punkten auf (9), wo es doch logisch wäre, mit dem Stopp der Produktion zu beginnen, wenn man das Ziel globaler Abrüstung verfolgt. Auch jener Teil der Produktion, der Deutschland nicht verlässt, findet bei den Kritikern keine Erwähnung. Folgerichtig kann sich Martin Schulz in einem Gastbeitrag für Spiegel Online gegen Waffenexporte positionieren (10) und gleichzeitig der Bundeswehr mehr und bessere Ausrüstung versprechen (11), ohne dass es irgendjemanden stören würde. Generell spielt die Forderung, die Bundeswehr abzuschaffen oder zumindest abzurüsten, verglichen mit dem Wunsch, mit Waffen keinen Handel mehr zu treiben, auch im Kern der Friedensbewegung so gut wie keine Rolle mehr (12). Wie noch an anderer Stelle gezeigt wird, wird über Abrüstung nur dann gesprochen, um sich als Gegenhegemon gegenüber der USA in Stellung zu bringen.
Die Goldenen Nasen der Rüstungslobby
Warum hält sich die Friedensbewegung, wenn es um die Rüstungsindustrie geht, so verdächtig still? Es ist naheliegend, diese Beschränkung der Waffenexport-Gegner auf den Handel bei gleichzeitiger Nicht-Beachtung der Produktion mit jenen Überlegungen zu konfrontieren, die Moishe Postone in Bezug auf die antikapitalistische Revolte der Nationalsozialisten anstellte. Soziale Verhältnisse werden im Kapitalismus nicht als solche, sondern vergegenständlicht, fetischisiert, als zweite Natur wahrgenommen. Auf unterschiedlichen Ebenen – der Ware, des Kapitals – erscheinen diese Beziehungen als Antinomie zwischen Abstrakt-Gesellschaftlichem und Konkret-Naturhaftem. In Form eines potenzierten Fetischs nimmt der Antisemit aber auch die abstrakte Seite der Antinomie wiederum konkret und personifiziert in Gestalt des Juden wahr. So wird beispielsweise das Geld, die Banken oder die Finanzsphäre generell als kapitalistisch, jüdisch oder ‚raffend‘ abgelehnt, während Industrie und Produktion als natürlich und ‚schaffend‘ weiterhin affirmiert werden können.
Friedensbewegung und Kritiker der Waffenexporte halten an dieser Projektion – freilich dem postnazistischen Jargon entsprechend verschoben – fest. Die Industrie taucht als solche in ihren Äußerungen so gut wie nicht auf – dagegen stehen die Waffenhändler als „Händler des Todes“ (Aktion Aufschrei) im Fokus. Wenn die Rüstungsindustrie überhaupt erwähnt wird, dann als Lobby: Protestaktionen werden mitunter direkt vor den Büros der für die Firmen arbeitenden Lobbyisten durchgeführt. Auch so kann die Sphäre der Produktion von Kritik ausgespart werden, während man Mechanismen der Vermittlung wie Handel und Lobbyismus ressentimenthaft angeht und die Politik als machtlosen Spielball jener Lobbyisten wähnt. Vom Profitieren ganzer Gemeinden und Kommunen von eben jener Industrie, von den zahlreichen Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie und in den vom militärischen Zweig gar nicht zu trennenden zivilen Sparten der Unternehmen und ihrer Zulieferer, von all jenen unangenehmen Fragen an die Volksgemeinschaft der Steuerzahler schweigt man lieber. Stattdessen werden sieben Manager ausgemacht, die als Einzige vom Waffenhandel profitieren sollen. Unbewusst, aber umso treffsicherer in der Bedienung antisemitischer Bildsprache, stellt ein Bündnis aus linken und kirchlichen Waffenexport-Kritikern riesige goldene Nasen vor dem Bundestag auf (13). Den angeblich Wenigen, die vom Waffenhandel profitieren, will man so, wie es auf der Website heißt, „Name und Gesicht“ geben.
Einfühlung in die Kanone
Doch in dieser fetischisierten Wahrnehmung fetischisierter Verhältnisse geht das Agieren der deutschen Linken nicht auf. Wie das Kapital auf das Recht angewiesen ist, damit die Warenhüter den Tausch überhaupt vollziehen und der Wert sich verwerten kann, ist die Einfühlung in den Wert als automatisches Subjekt durch die Subjekte als Bourgeois gar nicht von ihrer Einfühlung in den Staat als Gewaltmonopolisten und ideellen Gesamtkapitalisten zu trennen. Die Forderung, Waffen nicht zu exportieren, wo man doch gegen ihre Produktion nichts einzuwenden hat, ist nicht zuletzt aus dieser Einfühlung der Staatsbürger zu erklären: Empathie mit einem Staat, den man sich zugleich als ökonomisch erfolgreich und militärisch machtvoll wünscht.
In einem Brief vom Dezember 1938 schreibt Benjamin an Adorno, auf dessen These vom Konsum des Tauschwerts antwortend: „In der Tat kann man sich unter dem ‚Konsum‘ des Tauschwerts schwerlich etwas anderes vorstellen als die Einfühlung in ihn. Sie [Adorno, D.P.] sagen: ‚Recht eigentlich betet der Konsument das Geld an, das er selber für die Karte zum Toscanini-Konzert ausgegeben hat.‘ Einfühlung in ihren Tauschwert macht noch Kanonen zu demjenigen Konsumgegenstand, der erfreulicher ist als Butter. Wenn der Volksmund von jemandem sagt, ‚der ist fünf Millionen Mark schwer‘, so fühlt sich derzeit die Volksgemeinschaft selbst einige hundert Milliarden schwer. Sie fühlt sich in diese Hunderte von Milliarden ein. (…) Die Weltausstellungen (…) waren die hohe Schule, auf der die vom Konsum abgedrängten Massen die Einfühlung in den Tauschwert lernten“ (14). Die These von der wenn auch ‚trügenden‘ Übernahme der Funktion des Gebrauchs- durch den Tauschwert und die damit verbundene scharfe Trennung zwischen beiden, wie sie von Adorno für die Kulturgüter in seinem Essay Über den Fetischcharakter in der Musik vorgenommen wird (15), ist häufig Gegenstand von Kritik geworden.
Wie Gerhard Scheit festgestellt hat, wählt Benjamin nicht zufällig oder zum bloßen Kontrast neben der Butter die Kanone als Beispiel für die Einfühlung in den Tauschwert: „Darin steckt der Bezug auf ein ‚anders gelagertes‘ gesellschaftliches Verhältnis – eines, das mit Tauschwert und Kapital ursprünglich zwar nicht zusammenfällt, aber dafür die Conditio sine qua non bildet: der Bezug auf den Staat, der bekanntlich das Monopol in der Anwendung der tödlichen Gebrauchswerte bedingungslos beansprucht. Wenn es also eine Einfühlung ins real Abstrakte geben kann, so ist sie zwangsläufig im und durch den Staat vermittelt. Kanonen und Könige, U-Boote und Führerfiguren verschmelzen zu einem einzigen Identifikationsobjekt, das jene Konkretheit bietet, die dem Wert selbst fehlen muß. Dabei ist sein innerster Kern nichts anderes als dessen totale Abstraktion: Volksgemeinschaft ist Einfühlung ins Vernichtungspotential des Staates… Erst als Volksgenosse bekennt sich das Individuum voll und ganz zu jener Charaktermaske, die es im Verhältnis zum Kapital immer war und sein muß, solange Kapital existiert hat und existieren wird; erst als national gesinnter Staatsbürger kann es mit allen Sinnen und rückhaltlos bejahen, daß es nichts anderes sein möchte als die Personifizierung von Kapital und Staat“ (16).
Adorno vermisst in seiner Kritik an Benjamins Baudelaire-Buch die Vermittlung der beobachteten Phänomene durch die gesellschaftliche Totalität, die erst auf den Begriff zu bringen wäre. Dies angedeutet wäre im Sinne Scheits mit Benjamin zu argumentieren, dass die Einfühlung in den Tauschwert vielmehr eine in den Wert als automatisches Subjekt ist und diese eben nur in Verbindung mit der Einfühlung in den Staat von Statten geht. Für ersteres spricht Benjamins Interpretation des Mannes der Menge bei Poe, der, von Anstößen getrieben, die Konjunktur imitiere, die der Ware ihre Stöße versetzt: „Die Leute verhalten sich bei ihm [Poe, D.P.] so, als wenn sie nur noch reflektorisch sich äußern könnten“ (17). Aber auch aus Baudelaires Flaneur „spricht die Ware selbst“ (18), die Subjekt des Rauschzustandes in der Großstadt ist, in den sich dieser begibt (19). Die Verbindung dieser Einfühlung in die „Warenseele“, wie Benjamin mit Marx schreibt, mit der Einfühlung in den Staat legt er selbst ebenfalls nahe – auch über die Erwähnung von Butter und Kanonen hinaus: Die Weltausstellungen, die Benjamin als „hohe Schule“ für die Einfühlung in den Tauschwert bezeichnet („Alles sehen, nichts anfassen“), zeigen die Waren schließlich als Ausdruck nationaler – also staatlicher – Produktion. Als Teil einer Volksgemeinschaft – und somit Staatsbürger – ist es dem Subjekt dann auch möglich, was ihm als mittelloser Vereinzelter unmöglich ist: Es fühlt sich „milliardenschwer“ auf den Schultern von VW, Siemens und eben EADS. Zur Einfühlung in das staatliche Vernichtungspotential tritt eine in den unterm Staat akkumulierten Wert – profitiert man individuell nur höchst vermittelt von dieser Verwertung, wird die Exportweltmeisterschaft dennoch gefeiert, ohne dass es hierfür einer Fan-Meile bedürfte, während man zugleich seit Jahren auf die fällige Lohnerhöhung verzichtet. Die stagnierende Reallohnentwicklung in Deutschland ist der augenscheinliche Beweis, dass sich gerade die Deutschen lieber in den Tauschwert der Kanone einfühlen als in den Gebrauchswert der Butter.
Die von Benjamin beschriebene Einfühlung in den Tauschwert der Kanone wäre somit zu verstehen als Hinweis auf die doppelte Identifikation der Staatsbürger mit dem Staat als Gewaltmonopolisten und ideellen Gesamtkapitalisten. Den Waffenhandel verbieten und gleichzeitig von der Produktion dieser Waffen nichts wissen zu wollen, diese paradoxe Position verweist auf jene doppelte Einfühlung. Und tatsächlich spricht aus jeder Publikation der Waffenexport-Gegner auch die Faszination für die Produkte der Rüstungsindustrie und ihre tatsächlich mörderische Effizienz. Videoclips wie der zum Waffenexport-kritischen Lied Vaterland der Band Silly (20) unterscheiden sich in ihrer Ästhetik kaum von den Werbevideos von Rheinmetall und Co: Panzer, Schiffe und Flugzeuge in Formation und bei Paraden, Gewehre und Kanonen, die in Zeitlupe abgefeuert werden, Fahrzeuge, die dynamisch durch weite Landschaften pflügen. Selbst die schließlich hineingeschnittenen Bilder von Kriegsopfern wirken in ihrem Kontext eher als eine Demonstration der Effektivität der zuvor gezeigten Waffen, schließlich ist Deutschlands „Wertarbeit bis heute legendär“, wie man bei Bildern von grasenden Rehen auf einer Waldlichtung erfährt. Bei dieser Faszination spielt der Gebrauchswert nach wie vor eine zentrale Rolle: Im Falle der Rüstungsgüter als tatsächliches Potential der Vernichtung.
Denn bei allem Stolz auf deutsche Wertarbeit, der auch bei den gänzlich unpatriotischen Linken aus ihrer Affirmation für die Produktion und der Faszination für Waffentechnik spricht, soll sich der Wert dieser spezifischen Ware also anders als der Wert der Butter nicht im Tausch realisieren. Die Möglichkeiten der Vernichtung wollen die Deutschen auch unabhängig von ihrem Versuch, den Kapitalismus immer nur konkret zu fassen, nicht aus der Hand geben. Man bereitet sich innerlich schon auf die gewaltvolle Manifestation des Ausnahmezustands zwischen den Staaten vor, und dafür will man den eigenen Staat gut gerüstet wissen. Der bundesrepublikanische Volksgenosse denkt sich nicht nur „milliardenschwer“, sondern auch bis an die Zähne bewaffnet: So wachsen in einem weiteren Video (21), produziert von der Linkspartei und von dieser als „sehr schön, schaurig“ (22) beworben, dem Bundesadler unter den Flügeln Maschinengewehre. Diesem Wunsch nach militärischer Stärke ordnet man auch die Realisierung des Werts der Rüstungsgüter als Waren unter. Den zumindest unmittelbaren Widerspruch zwischen Akkumulation von Kapital und Vernichtungspotential müssen die Waffenexport-Gegner mühevoll rationalisieren, kommt das Gespräch doch mal auf die Rüstungsindustrie. So versucht beispielsweise Sarah Wagenknecht die eigene Anhängerschaft zu beruhigen: „Im Vergleich etwa zu den USA ist die Bedeutung des militärisch-industriellen Komplexes in Deutschland gering: Der Beitrag der Rüstungsindustrie zur gesamten Wertschöpfung liegt – großzügig berechnet – bei rund einem Prozent, der Anteil der Beschäftigung in der Rüstungsindustrie an der Gesamtbeschäftigung bei maximal 0,24 Prozent“ (23). Die wundersame Schöpfungsgeschichte des Wertes in Deutschland soll durch die eigene Forderung, mit Waffen keinen Handel mehr zu treiben, auf keinen Fall bedroht werden.
Dabei ergibt sich das spezifisch Deutsche an dieser Einfühlung in Wert und Staat nicht ausschließlich aus der Intensität dieser Einfühlung, sondern auch aus ihrem spezifischen Charakter. Sie tritt nicht als Nationalismus oder Chauvinismus auf: Gerade den deutschen Linken käme der Wunsch, Deutschland solle ökonomisch wie militärisch noch schlagkräftiger werden, nicht über die Lippen. Sie müssen ihre Sehnsucht nach Omnipotenz nicht zuletzt vor sich selbst in die Forderung nach dem Ende von Waffenexporten kleiden, um so die eigenen geopolitischen Ambitionen als Dienst am Allgemeinen, am „friedlichen Zusammenleben der Völker“, wie es im Grundgesetz heißt, verkaufen zu können.
Infantilisierung und Schuldabwehr
Die Wahrnehmung dieser Völker und ihres Zusammenlebens, die aus der Forderung nach dem Ende von Waffenexporten spricht, ist ein weiterer Aspekt der ideologischen Verfasstheit deutscher Waffenhandels-Gegner. Im Glauben, durch das Ende von Waffenlieferungen Konflikte beenden zu können, zeigt sich eine Infantilisierung der Konfliktparteien, deren eigentliches Ziel es ist, sich selbst von jeder Schuld am Vernichtungskrieg der Deutschen freizusprechen.
Es gleicht der Logik eines überforderten Lehrers bei der Pausenaufsicht: Zwei Kinder streiten und verprügeln sich mit Stöcken, also nimmt man ihnen die Stöcke weg. Für viel mehr pädagogische Intervention bleibt keine Zeit, und siehe da – es funktioniert. So stellt sich die Friedensbewegung, die nicht ohne Zufall zu einem großen Teil aus pensionierten Lehrern besteht, auch die Lösung eines internationalen Konfliktes vor. Nimmt denen doch mal die Waffen weg, dann vertragen die sich schon!
Von einer materialistischen Analyse, die eine mangelnde beziehungsweise ungleichzeitige Integration unter fragwürdigen historischen Konstellationen entstandener Staaten in den Weltmarkt in den Blick nähme, die das Entstehen von Konflikten und den Zulauf zu bestimmten Ideologien begünstigt, Ideologien, die geeignet sind den Charakter solcher Konflikte grundlegend zu verändern – von jeder Denkanstrengung, die die Verfasstheit der Welt und der Subjekte ernst und in den Blick nimmt, keine Spur. Stattdessen werden die ohnehin nur fetischisiert erscheinenden Verhältnisse weiter fetischisiert, indem der Mensch nur noch zum Anhängsel der Waffentechnik wird. Wenn der Drittländer, im Jargon der Waffenhandelsregulierung eine besonders schlimme Form des Ausländers, eine Waffe hat, wird er sie einsetzen. Zur Verantwortung zu ziehen, ist er dafür jedoch nicht, schließlich ist er nur ein schuldloses Anhängsel. Spricht hieraus zweifelsohne die rassistische Infantilisierung eines Großteils der Weltbevölkerung aus linksdeutscher Perspektive, zielt diese Infantilisierung und Entschuldung doch letztlich auf die Deutschen selbst.
So wird im bereits erwähnten Vaterland-Lied, in dem das Ende aller Waffenexporte gefordert wird, zwar zunächst die Möglichkeit aufgeworfen, aufgrund der Verstrickung Deutschlands in den Waffenhandel dieses Land nicht mehr lieben zu können, also Schuld eingestanden. In einer Erklärung, die im YouTube-Video den eigentlichen Video-Clip einbettet, lassen die Ostrocker dann jedoch keinen Zweifel mehr daran, dass es ihnen doch viel mehr um eine Entschuldung des Deutschen Volkes geht: Waffenhandel „ist ein Thema, das uns schon lange beschäftigt, das viele Fragen zur deutschen Geschichte und den Gewinnern des Krieges aufruft. Und, ganz ehrlich, in Anbetracht der jüngsten Kriegsereignisse auf der Welt sind wir absolut erschüttert. Dieses Video richtet sich nicht gegen die Menschen, die ihr Land und ihre Familien verteidigen, sondern gegen die Waffenlobby und all jene, die sich am Tod bereichern.“ Welche Fragen zur deutschen Geschichte durch aktuellen Waffenhandel bei Silly aufgeworfen werden, bleibt das Geheimnis der Band, die Antwort wird aber deutlich: Schuld am Weltkrieg sind nicht die Deutschen, die ja ihr Land und ihre Familien verteidigt haben, sondern die Waffenlobby und „all jene, die sich am Tod bereichern“ – vage Formulierungen, bei denen man sich umso sicherer sein kann, dass sie alle verstehen. Sich am Tode anderer zu bereichern, statt ihn völlig selbstlos aber dafür millionenfach herbeizuführen, das gilt den Deutschen spätestens seit Himmlers Posener Reden als eigentlich übelste Form des moralischen Verfalls.
Vor SS-Gruppenführern hatte der „Reichsführer SS“ festgehalten, dass man bei der „Ausrottung des jüdischen Volkes“, „von menschlichen Ausnahmen abgesehen“, doch „anständig geblieben“ sei und bei der Ermordung „keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter“ genommen habe, jedoch: „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder mit sonst etwas zu bereichern“ (24).
Die tatsächlichen Gewinner jenes Krieges, den Silly zweifelsohne mit ihrem Gerede von „deutscher Geschichte“ oder „geschichtlicher Verantwortung“ meinen, auch wenn sie ihn nicht mal benennen können, sind dann auch tatsächlich wichtigere Waffenexporteure als Deutschland: USA, Russland und Frankreich haben von 2011-2015 allesamt einen größeren Anteil am weltweiten Waffenhandel (25). Die Kritik am Waffenexport ist Schuldabwehr und Hass auf die Konkurrenz in einem.
Verdrängung der Gewalt
Die skizzierte Vorstellung, ohne die Lieferung von Waffen gäbe es keine Konflikte mehr, beruht jedoch nicht nur auf der Infantilisierung der Kriegsgegner durch die Friedensbewegung oder deren Versuch, die Schuld an Weltkrieg und Judenvernichtung zu verleugnen. Sie ist ebenso Ausdruck der Verdrängung der Gewalt aus dem Staat und den internationalen Beziehungen, die vielmehr mit den Mitteln der Innenpolitik gefasst werden sollen. So wird der Staat als an sich gewaltlos gedacht, das Gewaltvolle externalisiert, in diesem Falle auf einzelne Kapitalfraktionen, die wiederum nur als Lobby und Händler imaginiert werden können. Dies dient bereits der Rationalisierung eines Widerspruchs, dem die Staatsbürger nicht entrinnen können: Um als Einzelne vor der Gewalt geschützt zu sein, in einer Welt, in der jeder jeden töten kann und ökonomische Konkurrenzverhältnisse und prekäre Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung die Anwendung von Gewalt auch nicht gerade abwegig erscheinen lassen, müssen diese die einzig beim Souverän liegende Möglichkeit zur legitimen Gewaltanwendung akzeptieren, ein Souverän der auch jenseits des Ausnahmezustandes den Tod des Einzelnen als Verurteilter oder Soldat durchsetzen oder einfordern kann. Dass der Einzelne dieses so widersprüchliche wie beängstigende Verhältnis akzeptiert, liegt an der existenziellen Bedrohung, die ihm jenseits des Schutzes durch den Souverän droht: Ökonomische Überflüssigkeit als Bourgeois, Staatenlosigkeit als Citoyen. Die Anstrengung, die Subjekte in einem Staat zu entwaffnen, muss sich genau dieser Dialektik aus Beendigung gewaltvoller Verhältnisse und der Verallgegenwärtigung von Gewalt stellen, und unter anderem aus ihr wären unterschiedlich strenge Waffengesetze innerhalb der Staaten zu deuten.
Doch so wenig die Waffenexport-Gegner die gewaltvollen Verhältnisse in ihrem Staat zur Kenntnis nehmen wollen, so wenig wollen sie zwischen dem Verhältnis von Staatsbürgern in einem Staat und den Beziehungen der Souveräne zueinander unterscheiden. Sie sind in diesem Sinne, mit Scheit gesprochen, politisch engagiert: „Die Illusion [einer möglichen Befriedung zwischen den Staaten ähnlich der zwischen den Bürgern, D.P.] aber entsteht immer wieder neu aus dem Bedürfnis, sich darüber hinwegzutäuschen, dass die Form des Staats selber, die im Innern die Befriedigung ermöglicht, diesen latenten Kriegszustand im Äußeren zur Bedingung hat. Appeasement in dem Sinn, in dem es der Nationalsozialismus entlarvt hat, (…) beruht also stets darauf, das Gewaltverhältnis zwischen den Staaten auszublenden; zu verdrängen, dass der Staat als Gewaltmonopol und organisierter Zwang, der die Kapitalakkumulation gewährleistet, auf diesem Gewaltverhältnis fußt. Appeasement ist darum der Inbegriff des politischen Engagements. Indem das Wesen des Staats ausgeblendet wird, wiederholt man in der Ideologie, was der Unstaat in der Praxis unternimmt und fördert wissentlich oder unwissentlich den Zerfall der Gesellschaft und des Staats in Rackets – wozu bereits gehört, den internationalen Institutionen, die ihrem Wesen nach allesamt auf Abmachungen zwischen Staaten gründen, tendenziell mehr Bedeutung zuzusprechen, als sie demgemäß haben können“ (26). Die Waffenexport-Kritiker sehen die Gewalt als etwas dem Staat und dem Verhältnis der Staaten Äußerliches, was erst durch die Gier der Waffenhändler und Rüstungslobbyisten diesem zugefügt wird.
Doch auch im politischen Bewusstsein der Deutschen – friedensbewegt oder nicht – verschwindet die Gewalt nicht einfach. Sie wird projiziert auf den Staat Israel. Er allein erscheint als gewaltvoller Souverän. Und so ist zum einen auch zu erklären, warum die Forderung des Waffenexport-Stopps immer eine allgemeine ist, zum anderen, warum die Nicht-Behandlung der doch so populären Forderung in der Regel völlig gelassen hingenommen wird: Israel soll mit dem Ende des Waffenhandels getroffen und seiner Möglichkeit beraubt werden, sich gegen die mörderischen Feinde an seinen Grenzen wehren zu können. Damit die deutsche Volksseele in Form von Gedichten und Antisemitismus-Diskussionen in Wallung gerät, reichen keine Verkäufe von Panzern nach Saudi-Arabien, von Fregatten nach Algerien, von Kleinwaffen nach Mexiko. Es müssen schon U-Boote für Israel sein, damit sich mit der Forderung, Waffenexporte zu verbieten, Deutsche aller Länder mobilisieren lassen.
Deutsche Politik kennt kein Interesse
Diese Gemengelage aus völkischem Antikapitalismus, Einfühlung in den Staat als Gewaltmonopolist und ideellem Gesamtkapitalisten, aus Schuldabwehr, Infantilisierung, Verdrängung der Gewalt und Hass auf Israel trifft in der Forderung, Waffenexporte zu verbieten, auf eine spezifische Form des Politikverständnisses, wie sie eben auch aus dem eingangs zitierten Text der Monitor-Redaktion spricht. Dieses Verständnis gibt vor, kein materielles oder geopolitisches Interesse zu haben. Indem Machtpolitik offen kritisiert und angegangen wird, setzt man eigene ökonomisch-geopolitische Interessen rücksichtslos durch. Es ist dies eine Politik, die keine sein möchte, die aber umso vehementer anderen Politik vorwirft und das heißt in diesem Falle, für nationalstaatliche Interessen offensiv und mitunter öffentlich einzutreten. Mit diesem Politikverständnis einher geht ein rücksichtsloser Unilateralismus, der im Bestreben, das große Ganze – den Frieden, das Klima, die Flüchtlinge – zu retten, keine Freunde, keine bindende Abmachung, aber auch keine Gegner oder Konkurrenten kennt. Weil der deutsche Unilateralismus vermeintlich kein Interesse bedient, betreibt er Politik mit den Mitteln der Pädagogik: Wer sich den Deutschen Interessen nicht anschließt, verstößt gegen ein höheres, moralisches Prinzip, lässt Einsicht vermissen und kann daher mit Abstrafung rechnen. Wer das Klima-Abkommen neu verhandeln will, trägt Schuld an der Zerstörung der Erde. Wer plötzlich keine Flüchtlinge aufnimmt (um sie kurz darauf wieder weiterhin abzuweisen), der zeigt überhaupt seine Unmenschlichkeit. Und wer Nato-Staaten dazu bringen will, Ausgaben für ihre Bewaffnung und Aufrüstung wie abgesprochen zu verteilen, gefährdet den Frieden der Welt.
Deutschland geht freilich einen anderen Weg: Es verstößt einfach gegen die im Pariser Abkommen gesetzten Ziele zur CO2-Reduktion, anstatt diese wie die Trump-Regierung neu verhandeln zu wollen, um deren Forderung dann als „Schlag ins Gesicht der Menschheit“ (Germanwatch) abqualifizieren zu können (27). Es setzt internationale Abkommen, so schrecklich sie auch wie im Falle von Dublin II oder Schengen sein mögen, kurzerhand außer Kraft, um sie, ist erstmal das ökonomische Interesse befriedigt, wieder umzusetzen, unabhängig vom Chaos, dass man durch diese Politik in Staaten ohne Arbeitskräftemangel anrichtet – aber auch ohne Rücksicht auf die Situation in den scheiternden Staaten, aus denen der neue deutsche Niedriglohnsektor flieht. Und es ignoriert ein Abkommen von 2002, dass alle Nato-Staaten zu Rüstungsausgaben von 2% ihres BIP verpflichtet, und das, hielten sich alle Länder an diesen Wert, zwar zu einer Mehrbelastung der Bundesrepublik, aber zu insgesamt 18% weniger Rüstungsausgaben der Nato führen würde – ausgerechnet mit dem Verweis, dass angesichts des enormen wirtschaftlichen Erfolgs Deutschland diese Einhaltung eines internationalen Vertrages unzumutbar sei (28).
Wenn dann wiederum Trump fordert, klare Schritte der Europäer zur Einhaltung des Abkommens festzulegen, wird er für Schubsereien vor dem Pressefoto und militaristisches Säbelrasseln kritisiert (29). Vor diesem Hintergrund ist das Engagement der Friedensbewegung gegen Waffenexporte erst richtig zu verstehen, das ein Engagement für Deutschland ist und keine noch so naive Verweigerung, an der negativen Vergesellschaftung unter Staat und Kapital zu partizipieren.
Denn Deutschlands Rolle als Waffenexporteur muss zusammengedacht werden mit seiner generellen Rolle auf dem Weltmarkt. So war Deutschlands Anteil am weltweiten Waffenexport von 2012-2016 laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI zwar der fünftgrößte mit 5,6% hinter den USA (33%), Russland (23%), China (6,9%) und Frankreich (6,0%) (30). Im Vergleich zu Deutschlands Anteil am Welthandel ist seine Rolle als Waffenexporteur aber relativ gering: Hier war Deutschland 2015 der Staat mit den drittmeisten Exporten (8,1%) und lag – anders als beim Waffenexport – nur knapp hinter den USA (9,1%) und China (13,8%) und deutlich vor dem viertstärksten Exporteur, Japan (3,8%) (31). Diese Diskrepanz wird noch deutlicher, wenn man die Außenhandelsüberschüsse beziehungsweise -defizite miteinander vergleicht.
Somit profitiert Deutschland gerade im Verhältnis zu seinen Konkurrenten stärker davon, wenn international Rüstungsausgaben verringert werden und das Kapital in anderen Bereichen investiert wird. Diejenigen Industriezweige, die für den hohen deutschen Export maßgeblich verantwortlich sind, sind zudem häufig erst in der Endproduktion von der militärischen Rüstungsindustrie zu unterscheiden. So ist es beispielsweise für den größten Teil der Zulieferbetriebe egal, ob ihre Kugellager oder Klimaanlagen in Autos oder Panzer eingebaut werden, ähnliches gilt für Stahl- und Chemieindustrie. All diese Sparten, denen Deutschland die herausragende Position auf dem Weltmarkt verdankt, sind zugleich extrem von diesem abhängig – lassen sich ihre Produkte mal nicht auf ihm verkaufen, wird der Staat als Konsument einspringen. Ob diese staatliche Regulierung der Überproduktion dann in Form von Abwrackprämie oder Aufrüstung erfolgt, wird abhängig sein von der historischen Konstellation, technisch ist beides recht einfach möglich. Deutschlands Rüstungsfähigkeit ist also auch dann sichergestellt, wenn andere Wirtschaftszweige als die Rüstungsindustrie im engeren Sinne gefördert werden. Zugleich setzt Deutschland aber auch darauf, Geschäfte zu machen, wenn andere mit dem Einsatz von Waffengewalt neue Märkte erschließen. Als zurückhaltender Pazifist konnte Deutschland beispielsweise schon ab 2004 auch gegen den Willen der USA große Aufträge beim Wiederaufbau des Iraks an Land ziehen (32).
Deutsche Politik ist Gegen-Politik: Politik mit anti-politischer Rhetorik. Als solche der Pädagogik verbunden, kennt sie keine Konkurrenten am Weltmarkt oder Gegner in Interessenskonflikten, sie kennt nur uneinsichtige Feinde. Nicht ohne Grund sind es in der Regel die USA, gegen die man die Durchsetzung der eigenen Interessen im Dienste der guten Sache legitimiert. Nicht ohne Grund ist die deutsche Linke von den Linkspopulisten der Welt so begeistert, die ebenfalls den Mythos und den Feind an die Stelle des gemeinsamen Interesses setzen. Und sollte diese deutsche Feindbestimmung ihr Objekt tatsächlich einmal zum Abschuss freigeben, so hat die deutsche Linke ihren, wenn auch kümmerlichen Beitrag dazu geleistet: Durch die Forderung, Waffenexporte zu stoppen, wird der deutsche Souverän zumindest gut gerüstet sein.
Anmerkungen:
(1) https://www.facebook.com/monitor.wdr/posts/972407599464847.
(3) http://www.fluchtgrund.de/2016/07/auf-der-flucht-vor-deutschen-waffen.
(4) https://www.neues-deutschland.de/artikel/1000010.prozent-der-bundesbuerger-gegen-waffenexporte.html.
(6) http://www.sz-online.de/nachrichten/bund-genehmigt-weniger-ruestungsexporte-3705139.html.
(7) Siehe z.B. den Kommentar zu den vorläufigen Zahlen zum Waffenexport 2016 unter http://www.waffenexporte.org/wp-content/uploads/2016/10/Auswertung-R%C3%BCstungsexporte-2016.-Vorl%C3%A4ufige-Zahlen-des-BMWi.pdf.
(8) http://www.aufschrei-waffenhandel.de/Forderungen-Ziele.65.0.html.
(9) Ebd.
(11) http://www.pnn.de/pm/1187888.
(12) Vgl. bspw. die Kampagnen der Friedenskooperative: https://www.friedenskooperative.de/kampagne.
(13) http://www.aufschrei-waffenhandel.de/Goldene-Nasen.840.0.html
(14) Adorno, Theodor W./Benjamin, Walter: Briefwechsel. 1928 – 1940, Frankfurt am Main 1994, S. 385 f.
(15) So schreibt Adorno kurz nach dem von Benjamin im Brief zitierten Satz, den reinen Gebrauchswert zumindest als Illusion bestimmend: „Setzt die Ware allemal sich aus Tauschwert und Gebrauchswert zusammen, so wird der reine Gebrauchswert, dessen Illusion in der durchkapitalisierten Gesellschaft die Kulturgüter bewahren müssen, durch den reinen Tauschwert ersetzt, der gerade als Tauschwert die Funktion des Gebrauchswertes trügend übernimmt.“ Vgl. Adorno, Theodor W.: Über den Fetischcharakter in der Musik, in Ders.: Gesammelte Schriften. Band 14, Frankfurt am Main 2003, S. 26.
(16) Scheit, Gerhard: Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand, Freiburg 2001, S. 32 f.
(17) Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker in Zeiten des Hochkapitalismus, in: Ders.: Ausgewählte Werke, Berlin 2015, S. 494.
(18) Ebd.
(19) Ebd., S. 494.
(20) Video: „Silly – Vaterland – Das Musikvideo“ (https://www.youtube.com/watch?v=stIHsuuAVms).
(21) Video: „Waffenexporte stoppen!“ (https://www.youtube.com/watch?v=CJXoqhyvDN0).
(22) http://www.aufschrei-waffenhandel.de/Waffenexporte-stoppen.366.0.html.
(24) Vgl. „Rede des Reichsführers SS bei der Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943“, (online unter http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0008_pos&object=pdf&st=REDE%20DES%20REICHSF%C3%BCHRERS%20SS&l=de). Die Nazis, die ab 1934 (gemessen am Anteil an der Gesamtproduktion) das größte Aufrüstungsprogramm initiierten, das es jemals in Friedenszeiten gab, haben sich von Anfang an und bis zuletzt gegen eine private Bereicherung an der Aufrüstung gewandt. Bereits im 25-Punkte Programm der NSDAP von 1920 hieß es unter Punkt 12 entsprechend: „Im Hinblick auf die ungeheuren Opfer an Gut und Blut, die jeder Krieg vom Volke fordert, muß die persönliche Bereicherung durch den Krieg als Verbrechen am Volke bezeichnet werden. Wir fordern daher restlose Einziehung aller Kriegsgewinne“ (Herv. i.O., http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html).
(25) Vgl. SIPRI-Yearbook Summary 2016, online unter https://www.sipri.org/sites/default/files/YB16-Summary-ENG.pdf.
(26) Scheit, Gerhard: Kritik des politischen Engagements, Freiburg 2016, S.
(27) Vgl. https://www.freitag.de/autoren/nick-reimer/deutsche-doppelmoral sowie https://www.welt.de/politik/ausland/article164014068/USA-kritisieren-Deutschland-fuer-miesen-Klimaschutz.html.
(28) So eine Berechnung des Stockholmer Instituts SIPRI, das freilich zu Recht betont, dass eine Reduzierung der Ausgaben der USA, die gerade 3,3% des BIP für Rüstung ausgeben, eher unrealistisch ist. Ein Umstand, auf den sich Deutschland freilich nicht berufen kann. Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/militaerausgaben-die-maer-von-gleichen-militaerausgaben-1.3474484.
(31) Vgl. die Zahlen der WTO in der Übersicht bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Welthandel/Tabellen_und_Grafiken#cite_note-:1-6.
(32) Vgl. Kiechle, Brigitte: Das Kriegsunternehmen Irak, Stuttgart 2006.