Von Redaktion Pólemos

Die Mordtaten des 7. Oktober, die Massaker der palästinensischen Banden im Süden Israels sind so brutal, dass man die Lektüre jeder Beschreibung sofort beenden möchte, so barbarisch, dass eine Nacherzählung der Gewalt nicht über die Lippen oder aufs Papier geht. Aber die Lüge beginnt dort, wo nicht mehr erzählt wird, was war. Ohne Einblick in die Gräueltaten vom 7. Oktober können auch die Voraussetzungen dessen, was geschah, nicht kritisiert oder auf einen Begriff gebracht werden. Ohne Konfrontation mit den Taten droht man denen auf den Leim zu gehen, die sie leugnen, verharmlosen oder feiern.

Ein Freiwilliger der Organisation Zihuy Korbanot Ason (ZAKA), die nach Unfällen und Terroranschlägen nach religiösen Vorstellungen Leichen birgt, berichtet auf einer Pressekonferenz vom Einsatz im Kibbuz Beeri am 7. Oktober:

„We went in. The first house we saw there was a couple, father and mother, sitting on their knees on the floor. They were on their knees, now they were head down, hands tied to the back. On the other side of the dining room, it wasn’t the living room, it was the dining room, whatever, was a seven year old boy and a girl, I would say about six years old, sitting just against the parents. Hands tied to their back, same position. The bodies were tortured. While, now I start using my imagination. Who was tortured before? Who saw…, if this was on purpose, if this was the children looking at the parents being tortured, the parents seen…and when I say tortured, I will say: Missing body pieces. An Eye. Just taken out an eye. One Eye. Fingers. Fingers been…. All this happened, and at the end, they all had a bullet hole in the back. And – its still not finished – in the middle there is a table. Those terrorists were sitting and eating the Saturday meal that was prepared for this family and was prepared for this family they just took it, they were hungry propaply, they took it and they ate this meal while torturing this children and this parents. Three of my – I broke. I blanked out. (…).”(1)

Was bleibt sind die Überlebenden und Angehörigen. Gegenüber CNN berichtete eine Frau, deren 18jährige Tochter von den Mördern der Hamas ermordet und deren 49jähriger Mann in den Gaza-Streifen entführt wurde, von ihren beiden überlebenden Kindern im Alter von neun und elf Jahren, die an der Beerdigung ihrer großen Schwester teilnahmen: „It was a closed casket of course, you couldn’t see it and they wanted to hug her. They wanted just pet her, her curls, and hold her. And they admired her, she was a loving kind, a ray of light, she was pure, pure good. Seriously, she was so good. I don’t understand how can you kill – its like killing a unicorn. You can never kill a unicorn.”(2)  Im israelischen Fernsehen spricht die Schoa-Überlebende und nun auch Überlebende des 7.Oktober, Sarah Fishbein, die den Mördern aus dem Gaza-Streifen nur knapp entkam, während ihre Enkelin ermordet wurde: „Warum bin ich als 94jährige noch am Leben und meine Enkelin wurde so brutal ermordet? Das frage ich immer wieder und ich will die schreckliche Art vergessen, auf die sie missbraucht wurde bevor die sie getötet haben. Ich möchte, dass es aufhört sich in meinem Kopf zu wiederholen.“(3)

Islamistische Rackets und Antisemitische Gewalt: Zum Kontext des 7. Oktober

Um sich mit den grauenvollen Terrorangriffen vom 7. Oktober auseinandersetzen zu können, braucht es einen Blick auf ihren Kontext. Ausgegangen sind Taten wie die beschriebenen von einem Proto-Staat, den die Hamas im Gaza-Streifen errichtet hat: Sie hat in festen Grenzen die Herrschaft über den Küstenstreifen inne, sie stellt (mit Hilfe internationaler Hilfsorganisationen, aber auch das ist nichts ungewöhnliches) den Einwohnern des Küstenstreifens öffentliche Güter wie ein Gesundheits- und Bildungssystem zur Verfügung. Lediglich die Souveränität nach Außen fehlt ihr. Diese Proto-Staatlichkeit wird in der weltweiten Debatte über ein Ende der zum Nahost-Konflikt verharmlosten antisemitischen Gewalt gerne ignoriert. Nur wenn so getan wird, dass die Einwohner Gazas diskriminierte Bürger Israels seien, kann dem jüdischen Staat Apartheid vorgeworfen werden. Nur wenn man von den quasi-staatlichen Strukturen in den Händen der Hamas völlig absieht, kann die Mär aufrechterhalten werden, durch die Gründung eines palästinensischen Staates mit voller Souveränität auch nach Außen würde plötzlich Frieden in die Region einkehren.

Der Proto-Staat im Gaza-Streifen basiert auf einer Rentier- und Racket-Ökonomie (4). Anders als andere nationale Rentier-Ökonomien basiert diese nicht auf Ressourcen wie Öl oder Gas, die man mit geringem Aufwand fördern, exportieren und die so erzielten Gewinne unter dem geneigten Klientel verteilen könnte. Was die Hamas unter den Augen Israels in Gaza in den letzten Jahren unter die nationale Umma brachte war die Entwicklungshilfe westlicher und die direkte Unterstützung arabischer und islamischer Staaten. Damit diese sogenannten „sekundäre Renten“(5) fließen, muss der Konflikt am Köcheln gehalten, das Elend in den palästinensischen Gebieten reproduziert und die Gewalt gegen den jüdischen Staat Israel ständig fortgeführt werden. Das Agieren des Palästinenser-Flüchtlingshilfswerks UNRWA ist das deutlichste Beispiel für diese Verewigung des Elends. Die sich andeutende Aufnahme diplomatischer Beziehungen von mehr und mehr arabischen Staaten mit Israel ist hingegen eine akute Bedrohung dieser Rentier-Ökonomie. Auch dieser Politik galt der Angriff der Hamas.

Doch über ein Gewaltmonopol, über einen einheitlichen Herrschaftsapparat im Protostaat Gaza verfügt die Hamas nicht. Das zeigte nicht zuletzt der Angriff auf Israel am 7. Oktober: In den Verhandlungen über eine Freilassung der Geiseln im Tausch gegen inhaftierte Terroristen musste die Hamas zähneknirschend zugeben, dass sie nicht weiß, wo sich alle Geiseln befinden und wer sie eigentlich entführt hat (6). Ihre Verhandlungsposition dürfte das verschlechtert haben. Islamischer Djihad, Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden und nicht zuletzt erhebliche Spaltungen innerhalb der Hamas selbst multiplizieren die Protostaatsgewalt im Innern des Gaza-Streifens. Wo die Angriffe der Hamas und anderer am 7.10. an ein Pogrom erinnerten, lag das auch an dieser Racket-Struktur im Gaza-Streifen.

Diese Verbindung von Rentier- und Racket-Ökonomie im Proto-Staat Gaza wirkt sich auf die Konstitution der Gesellschaft und die individuelle Verfasstheit der Bürger aus. Der politische Islam ist nicht rein zufällig oder lediglich aus Tradition in dieser Gesellschaft so erfolgreich. Er hilft den Gläubigen, die ihre Arbeitskraft kaum verkaufen können, sich in ihrer ökonomischen Situation einzurichten, auch ohne produktiv im Sinne des Kapitals sein zu müssen (7). Er stabilisiert die familiären Strukturen zur Verteilung der Gewinne im Innern und sichert ideologisch die Verbindungen nach Außen, nach Qatar und in den Iran, ohne die ein Großteil dieser Gewinne nicht zu erzielen wäre. Es kommt zu einer Islamisierung der Racket- und Rentier-Ökonomie, bei gleichzeitiger Racketisierung und – wie man am 7. Oktober einmal mehr sah – permanenten Brutalisierung des politischen Islams. Denn für die Popularität in der islamistischen Internationalen konkurriert man mit IS und Taliban um die grausamsten Bilder. Auch vor diesen Gruppen wollten sich die Mörder vom 7. Oktober beweisen.

In Anbetracht dieser islamistischen Konkurrenz nach Außen garantiert nicht zuletzt der Antisemitismus sowohl die relative und zumindest punktuelle Einheit der Rackets (8) innerhalb des Gazastreifens als auch die Rente aus der Welt. Er spielt gemeinsam mit einem häufig national-islamisch konnotierten Opfer- und Märtyrermythos, der Geringschätzung des diesseitigen Lebens sowie Expansions- und Missionierungsgelüsten eine erhebliche Rolle bei der Legitimierung von islamistischer, genozidaler Gewalt nicht nur, aber insbesondere gegen Juden. Der gemeinsame Feind Israel lässt die Feindschaft zwischen Islamischer Djihad, Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden, PFLP und anderen kurz in den Hintergrund treten. Zugleich wäre es wohl undenkbar, dass die Palästinenser die gleiche finanzstarke Pseudo-Solidarität erführen, wenn ihre Angriffe nicht ungläubigen Juden, sondern einem muslimischen Nachbarstaat gelten würden.

Die Individuen können dieser islamisierten Racket-Gesellschaft nicht entkommen. Für die Psychologie der Einwohner Gazas als Racketeers (9) bedeutet das einen erheblichen Druck zur unmittelbaren Identifikation mit der Macht sowie zur bewussten Anpassung an die Herrschaft der Rackets. Kritische Reflexion ist kaum möglich, wenn bereits Distanz zu den Führern der Rackets mit dem Verlust der Existenzsicherung sanktioniert werden kann. Zweckrationales Verhalten muss sich an die Racket- und Rentierökonomie anpassen. Die Familie ist kein Gegenstück zu dieser Racket-Gesellschaft, sie ist als Großfamilie (‚Clan‘) längst in die Racket-Struktur eingegliedert. Nicht ohne Grund überlegt die israelische Regierung, nach dem Krieg die Macht im Gaza-Streifen an von der Hamas-distanzierte Clans zu übertragen, und so die familiarisierte Racketstruktur für sich nutzbar zu machen (10).

Das Lachen der Hamas

Welche Rolle der Antisemitismus für die Psychologie dieser Racketeers spielt, wurde am 7. Oktober sichtbar. Denn ohne die Bestimmung eines absoluten Feindes, wie sie der Antisemitismus im Juden liefert, ist die Gewalt wohl kaum denkbar. Sie geht aber darin auch nicht völlig auf, und die grausamen Taten müssen genauer betrachtet werden, will man etwas zur Frage erfahren, wie sie möglich wurden.

Über den eliminatorischen Angriff vom 7.10., über die Massaker im israelischen Kernland ist auch deswegen so viel bekannt, weil die Mörder sich bei ihren Taten filmten: Die GoPro lief mit, als man in die Kibbuzim eindrang und arglose Menschen abschlachtete. Wo keine Actionkamera zur Hand, nutzten die Täter auch die Handys der Opfer und streamten beispielsweise die Ermordung einer Frau auf deren Facebookprofil – vor den Augen ihrer Enkel. Das erinnert an die Terroranschläge von Christchurch oder Halle, bei denen die Täter ihre Morde ebenfalls live übertrugen. Diese neue Form der Inszenierung des Mordens führt bei den Mördern zu einer Derealisierung der eigenen Taten, die eine weitere Brutalisierung zumindest begünstigt: Man passt die Ästhetik der eigenen Gewalt den Gewaltdarstellungen aus Videospielen an. Was im Spiel möglich ist, kann plötzlich in der Realität wiederholt werden – auch gerade, wenn das Spiel die eigenen Gewaltphantasien nicht mehr zu befriedigen vermag. Längst werben auch Armeen, darunter die Bundeswehr, mit der Gaming-Ästhetik. Der Islamische Staat verbreitete in Anlehnung an eine berühmte Videospiel-Reihe und an die Möglichkeit, nach dem Spieltod neu in das Spiel einzusteigen, Grafiken mit Aussagen wie „This is our call of duty and we respawn in jannah“ (11). Sowohl bei den Nazi-Mördern aus Neuseeland und Deutschland, als auch insbesondere im Falle der Vervielfachung dieser Technik durch die Terroristen von Hamas und Islamic Djihad hat das Live-Streamen und Filmen der eigenen Taten aber auch einen bestätigenden Charakter: Vor der Kamera darf man nicht versagen, darf keine Schwäche, kein Erbarmen mit den Opfern zeigen. Die Tat wird durch das Medium sofort vergemeinschaftet. Diese Form der Dokumentation entspricht der psycho-sozialen Vergesellschaftung im Gaza-Streifen, die eine reflektierte Trennung zwischen Ich und Familie erschwert.

Das Live-Streaming des Mordens setzt freilich ein Publikum voraus, welches sich in Anbetracht der Gewalt nicht entsetzt abwendet, sondern die Ermordung wehrloser Opfer beklatscht, noch die grausamsten Exzesse feiert und sich mit den Mördern identifizieren will. Durch Point-of-View-Shoots der Killer fühlt man sich in deren mörderischen Shootings hineinversetzt, fiebert und feiert mit. Die Attentäter von Halle und Christchurch fanden dieses Publikum in rechtsextremen und männerbündischen Gaming-Foren, die Attentäter von Nir Am, Cholit, Alumim, Jad Mordechai, Erez, Kfar Aza, Ein HaShlosha, Nahal Oz, Be’eri, Kissufim, Reʿim, Nir Oz, Kerem Schalom, Zikim, Sufa, Magen, Karmiya und Mefalsim, Netiv HaAsara, von Sderot und Ofakim hingegen in den ganzen palästinensischen Gebieten. Auch nach den Massakern vom 7. Oktober und der vehementen militärischen Reaktion Israels im Anschluss, hielten in einer Umfrage mehr als 60 % der Palästinenser den bewaffneten Kampf gegen Israel für das Beste Mittel zur Erreichung der eigenen Ziele, während nur 10 % der Ansicht waren, die Hamas habe an jenem Tag Kriegsverbrechen begangen (12).

Das Filmen der Taten zielt aber nicht lediglich auf die Selbstvergewisserung und Brutalisierung der Täter, sie ist auch der Schlüssel dafür, warum die Identifikation insbesondere bei vielen Muslimen und der globalen Linken so groß ist. Nicht obwohl die Hamas und andere Banden derart grausame Massaker verübt haben werden sie entschuldigt oder gefeiert, sondern weil ihre Taten zugleich grausam wie gut dokumentiert sind. Nicht zuletzt in der Herstellung von Gefolgschaft besteht der schreckliche Nutzen der Dokumentation der Verbrechen durch die Täter selbst. Das betrifft nicht nur den Konkurrenzkampf der islamistischen Gruppen um die grausamsten Bilder. Die so schamlos dokumentierten Taten sind so brutal, dass eine Identifikation mit den Opfern nahezu unmöglich wird. Es ist schlicht nicht denk- und aushaltbar, dass einem selbst das passiert, was die Zaka-Freiwilligen, die trauernde Mutter im CNN-Interview oder die Überlebende Sarah Fishbein berichten. Und so wenden sich Umma und Linke der Hamas und ihren Konsorten zu im Drang zur kollektiven Identifikation. Die trotz aller Privilegien-Selbstbezichtigung tief empfundene Ohnmacht in Anbetracht der Verhältnisse unter Staat und Kapital wird selbst im Moment des extremsten Machtverhältnisses noch auf die Vernichtungskrieger der Hamas projiziert: Deren tausendfacher Mord an wehrlosen Zivilisten wird als Empowerment gefeiert. Die Identifikation mit den ohnmächtigen, ja lediglich reaktiven Mördern und die Empathielosigkeit gegenüber den Opfern wird zusammengehalten von der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr: Wie böse müssen die Juden sein, dass wir ihnen so etwas antun?

Die Filme der Täter, aber auch zahlreiche Berichte von Überlebenden bezeugen die gute Laune, die regelrechte Ekstase auf Seiten der Mörder und Vergewaltiger. Lachen können die Täter, weil sie wissen – und durch die filmische Dokumentation sich dessen weiter versichern – dass ihnen von ihren Autoritäten keine Strafe droht, sondern Gratifikation winkt. Aus dem Lachen der Mörder spricht der Spannungsabbau: Die post-pubertäre Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Natur wird mörderisch bearbeitet, indem man sich durch brutalste Tötungsmethoden, durch Verstümmelungen der Opfer vor und nach der Tat der eigenen Lebendigkeit und Naturhaftigkeit versichert (13).

Dies zeigt sich auch an einem weiteren Publikum, dass sich die Täter in nicht vorstellbarer Grausamkeit organisierten: Die Familienangehörigen der Opfer. Vor diesen lachten die Täter nicht nur, sie wollten auch, dass jene ihnen beim Essen der von ihnen zubereiteten Speisen, beim Foltern und Morden der Eltern und Großeltern, Kinder und Enkel, Brüder und Schwestern zusahen. Die Tante einer befreiten minderjährigen Geisel berichtete im französischen Fernsehen, gefangene Kinder seien von der Hamas gezwungen worden, Videos der Gewaltexzesse vom 7. Oktober anzuschauen (14). Das ist kein Zufall. Das kollektive Selbstmordattentat vom 7. Oktober diente den Terroristen wie andere vor ihm wohl auch dem Entfliehen der ödipalen Konstellation. Zum einen, indem die Mörder als Märtyrer zu den Autoritäten der familiären Rackets aufschließen können, ohne diese wirklich zu Bedrohen. Zum anderen werden ödipale Konflikte an den Opfern ausagiert, Rache an den eigenen Eltern und Selbsthass angesichts der Machtlosigkeit in der Familie sind Antrieb, um so wahnhaft wie projektiv Kinder vor ihren Eltern oder Eltern vor ihren Kindern zu foltern und zu töten. Der gesellschaftlich und familiär betriebene Märtyrerkult ist zugleich eine gesellschaftlich honorierte Form der elterlichen Todesdrohung: Regretting Fatherhood in seiner extremsten Form. Und so konnten sich die Djihadisten vom 7. Oktober noch in ihrer Rache an den Eltern mit deren Wünschen gemein machen, wie der von Israel aufgezeichnete Anruf eines der Hamas-Vernichtungskriegers noch aus dem Kibbuz Mefalsim deutlich machte: „Dein Sohn hat gerade Juden getötet, Papa. (…) Öffne WhatsApp und schau es Dir an!“ (15) Diese Konstellation wird ökonomisch abgesichert durch die Märtyrerrenten für die Hinterbliebenen antisemitischer Mörder – ein Budgetposten im Haushalt der palästinensischen Proto-Staaten, der mit Hilfe internationaler Unterstützung nach Ende des gegenwärtigen Krieges massiv anwachsen wird, sollte Israel dem nicht Einhalt gebieten können.

Hinter dem Ruf nach Kontext verschanzen sich die Mörder

Die akademisch und gesellschaftlich akzeptierte Variante der erwähnten Schuldzuweisung für die eigene Ermordung und Verschleppung an die Juden – Wie böse müssen die Juden sein, dass wir ihnen so etwas antun? – ist der vehement vorgetragene Wunsch nach einer „Kontextualisierung“ des Massakers. Für die Forderung nach Beachtung des Kontexts gilt die Weisheit von der Lüge, die so falsch ist, dass nicht mal ihr Gegenteil stimmt.

Denn die Kontextalisierer der Massenmorde vom 7. Oktober wollen nichts wissen von islamistischer Ideologie, von der Konkurrenz der Gewalt zwischen islamistischen Rackets. Sie wollen nichts hören vom eliminatorischen Antisemitismus palästinensischer Banden, der sich seit Jahren ständig manifestiert, sei es in den Morden von Itamar 2011, in den Selbstmordattentaten der 2. oder den Meuchelmorden der Messerintifada. Sie wollen nicht sprechen über die extreme Grausamkeit der Hamas-Barbaren, die ohne eine konstante De-Humanisierung, nicht schreiben über die sexualisierte Gewalt, die ohne eine antisemitisch grundierte Mysogonie nicht zu erklären ist. In den offenen Briefen dieser Wissenschafts-Aktivisten wird den Massakern nichtmal ein eigener Satz gewidmet: „Seit den Massakern der Hamas in Israel am 7.10.2023 und der darauf folgenden Kollektivbestrafung Gazas“ heißt es in einem offenen Brief „kritischer Wissenschaftler*innen“ wie Daniel Loick und Paul Mecheril „an die deutsche Politik und Öffentlichkeit“ (16). „The unconscionable violence of the October 7 attacks and the ongoing aerial bombardment and invasion of Gaza are devastating, and are generating pain and fear among Jewish and Palestinian communities around the world“ heißt es bei Bartov, Rothberg und anderen (17). Die Morde werden pflichtschuldig erwähnt, sie werfen bei diesen Holocaust-Forschern und Antisemitismus-Experten aber keine Fragen auf. Sie suchen nämlich keinen Kontext zur kritischen Bestimmung der Taten der Hamas, sonst kämen sie an politischer Ökonomie, Ideologie und Sozialpsychologie der Täter nicht vorbei. Diese kritischen Wissenschaftler suchen einen Anlass um zu thematisieren, was ihnen eigentlich ein Anliegen ist: die Ablehnung von Israels Existenz. „Seventy-five years of displacement, fifty-six years of occupation, and sixteen years of the Gaza blockade have generated an ever-deteriorating spiral of violence” schreiben Bartov et al. Loick und Kollegen verstecken sich in ihrem Ressentiment noch hinter Amira Hass, die sie zustimmend zitieren: Ihr Deutschen, so Hass, habt die sich aus dem Holocaust ergebende Verantwortung „verraten durch eure vorbehaltlose Unterstützung eines Israels, das besetzt, kolonisiert, den Menschen das Wasser wegnimmt, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen im Gazastreifen in einem überfüllten Käfig gefangen hält, Häuser zerstört, ganze Gemeinschaften aus ihren Häusern vertreibt und Siedlergewalt fördert.“

Der Wunsch nach Kontextualisierung hört bei den Taten der Juden auf: In welchen „politischen Rahmenbedingungen“ (Kritische Wissenschaftler) rechtsextreme Parteien und die Siedlerbewegung in Israel erstarkt sind, worauf die Vertreibungen von 1948, die Besatzung von 1967 und die Blockade von 2005 eine Reaktion war, gilt es zu verbergen. Das Agieren Israels muss man nicht kontextualisieren, es wirft keine Fragen auf, sondern ist schlechthin böse. Der Antisemitismus ist dem Antijudaismus darin ähnlich, dass er den Juden vorwirft, was er ihnen antut. Folterte man im Mittelalter Juden, um von ihnen Geständnisse zu erpressen, sie hätten den Herrgott in Form einer Hostie gefoltert, versucht man Israel vom Tag seiner Gründung an zu vernichten, um dem jüdischen Staat die erfolgreiche Verteidigung als koloniales Verbrechen oder jüngst als Genozid anzukreiden. Deutlich wird dieser Zynismus auch in der Argumentation von Bartov, Rothberg, und anderen in einem zweiten Beitrag (18): So schlimm die „schrecklichen Ereignisse“ vom 7. Oktober auch gewesen seien, eine existenzielle Bedrohung für Israel habe nicht bestanden, weiß man mit Verweis auf einen IDF-General zu verkünden. Das stimmt zweifellos für den 7. Oktober. Doch am mangelndem genozidalen Engagement der Bürger Gazas lag das nicht. Dass die koordinierten Angriffe vom Land, aus der Luft und vom Wasser so relativ schnell zurückgeschlagen werden konnten, war begründet nicht zuletzt in der Blockade des Gaza-Streifens, die seit Jahren eine noch massivere Aufrüstung der Hamas und damit am 7.10. einen noch schlimmeren Völkermord verhinderte.

Was den 7. Oktober in seiner Qualität von der Schoa abhebt, ist die Existenz des Staates Israels als „strongest power in the region“, da haben Bartov und Kollegen schon Recht. Aber eben nicht in dem Sinne, dass es ausschließlich die Gewalt dieses Staates war, welche die Verbrechen der Hamas und deren große Popularität in den palästinensischen Gebieten und der arabischen Welt möglich machten. „Anders als 1938 und 1941 gibt es heute einen jüdischen Staat, dessen vorrangiger Staatszweck darin besteht, zu verhindern, dass jemals wieder jemand die Gelegenheit haben wird, Millionen von Juden zu vernichten. (…) Der Staat Israel kann selbst die Sicherheit seiner Bewohner wieder herstellen; er kann und wird die Täter sanktionieren. Der genozidalen Gewalt der Hamas wurde ein Ende gesetzt, die Taten sind traumatisierend und der Schrecken für die israelische Gesellschaft hält in Anbetracht andauernder Entführungen, sterbender Soldaten und Raketenbeschuss an – doch allein dank des Staates Israel ist es kein neuerlicher Zivilisationsbruch.“(19)

Zum Kontext der Kontextualisierer

Die sich in den offenen Briefen manifestierende wissenschaftlich-aktivistische Agitation gegen den jüdischen Souverän selbst in Anbetracht massiver genozidaler Gewalt gegen seine Bewohner, seien sie nun Juden, Muslime oder Christen, wäre selbst zu kontextualisieren. Nicht zuletzt muss die Rolle akademischer Netzwerke betrachtet werden, deren Mitglieder mehr offene Briefe unterzeichnen als wissenschaftliche Publikationen vorlegen. Zum Teil ergibt sich das Ressentiment gegen den jüdischen Staat aber auch aus der begrifflichen Arbeit dieser Polit-Akademiker. So formuliert Daniel Loick, der Israel im oben zitierten offenen Brief u.a. eine vermeintliche Kollektivbestrafung des Gaza-Streifens und das Stehlen von Land vorwirft, eine Kritik der Souveränität, die auf den Begriff der Totalität verzichtet und Dialektik zur Ironie verharmlost (20). Mit dem „wahrheitstheoretischen Ballast“ dialektischer Kritik (21) verwirft er auch das kritische Potential der Kritischen Theorie insgesamt und so wundert es kaum, dass Loick zwischen dem Völkermord der Hamas und der Selbstverteidigung des israelischen Souveräns maximal den Unterschied erkennen kann, dass Letzterer Schuld am Ersteren ist. Wer von der Totalität unter Staat und Kapital und der Verstrickung der Individuen in diese schweigt, der muss Widersprüche zu Ironien, Kritik der politische Gewalt im Innern der Staaten zur „Kritik der Polizei“(22) und Kritik der Souveränität eben zur „Kritik“ jüdischer Souveränität verniedlichen.

Anders Michael Rothberg. Der vielbeachtete Verfechter eines Konzepts der „Multidirektionalen Erinnerung“ warnt gemeinsam mit anderen im oben zitierten offenen Brief davor, sich bei der Wahrnehmung des aktuellen Krieges auf die Erinnerung an den Holocaust zu berufen. In seiner Essaysammlung „Multidirektionale Erinnerung“ hatte Rothberg noch geschrieben: „Im Gegensatz zu einer Konzeption, die kollektive Erinnerung als einen Fall von Erinnerungskonkurrenz – als Nullsummenspiel und Kampf um knappe Ressourcen – begreift, schlage ich vor, dass wir Erinnerung als multidirektional verstehen: als Erinnerung, die ständigen Aushandlungen, Quervergleichen und Anleihen unterworfen und dabei produktiv und nicht ablehnend ist.“(23) Produktiv erscheint es ihm, wenn in das berühmte Foto des Jungen, der im Warschauer Ghetto mit erhobenen Händen abgeführt wird, ein Bild von einem palästinensischen Jungen, ebenfalls mit erhobenen Händen, hineinmontiert wird. Produktiv ist es jedoch nicht, wenn genozidale Gewalt gegen Juden im Jahr 2023 in ein Verhältnis zum Genozid an Juden im Jahr 1941 gesetzt wird. Das Produkt, um das es Rothberg geht – und das macht seine Unterzeichnung des offenen Briefes einmal mehr deutlich – ist die Abschaffung Israels. Der Nutzen für die Herstellung dieses Produkts ist der Maßstab, an dem die multidirektionale Erinnerung gemessen wird.

Fragen nach dem 7. Oktober

Die Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 werfen Fragen auf, welche in Europa, in Deutschland, in der globalen Linken und anderswo nicht gestellt werden und welche der jüdische Souverän ganz unironisch zu beantworten gezwungen ist. Das Desinteresse an diesen Taten wird flankiert von einem Verständnis für die Morde, welches durch die pflichtschuldige und uninteressierte Verurteilung der Massaker nicht kaschiert werden kann.

Die selektive Kontextualisierung der Morde zu Lasten Israels ist der Beitrag, den kritische Wissenschaftler zum antisemitischen Krieg gegen Israel beitragen. Dabei müssten die Fragen nach dem 7. Oktober doch eigentlich lauten, wie die polit-ökonomischen Grundlagen des Rentiers- und Racket-Protostaats Gaza, wie die Racketisierung und permanente Brutalisierung des politischen Islams, wie die Konkurrenz antisemitischer Banden gestoppt werden könnte, damit sich der 7. Oktober nicht wiederholen kann. Die Antworten auf diese Fragen und die unter den Maßgaben von Staat und Kapital vollzogene Vergesellschaftung der Individuen sind der Kontext, in welchem Israel seine jüdischen Bürger vor antisemitischer Gewalt zu schützen versucht.

Anmerkungen:

  1. www.youtube.com/watch?v=V_rFWDZd86E .
  2. https://twitter.com/adammaanit/status/1720782383996088349 .
  3. Eigene Übersetzung der englischen Untertitelung unter https://twitter.com/EylonALevy/status/1719668226068549635 .
  4. Zum Begriff Mayer, Florian (2006): „Zur Bedeutung von Renteneinnahmen für die politische und ökonomische Entwicklung der MONA-Region: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.“, In: Friedrich-Ebert-Stiftung: Hintergrundinformationen aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. https://library.fes.de/pdf-files/iez/04276.pdf .
  5. Ebd., S. 2.
  6. www.reuters.com/world/middle-east/hamas-armed-wing-spokesman-fate-many-hostages-unknown-2024-01-14/ .
  7. Vgl. Scheit, Gerhard (2004): Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt. Freiburg, S. 426 ff.
  8. Vgl. Fuchshuber, Thorsten (2019): Rackets. Kritische Theorie der Bandenherrschaft. Freiburg, S. 477.
  9. Vgl. ebd., S. 367ff.
  10. www.timesofisrael.com/idf-shin-bet-said-to-favor-palestinian-clans-temporarily-administering-gaza.
  11. Zit.n. Puls, Hendrik (2020): „‚Gamificationd es Terrors‘. Ein Brauchbarer Begriff um rechtsterroristische Anschläge zu beschreiben?“. NFG020 Working Paper #3. http://nfg-rexdel.de/images/Working_Paper_3.pdf .
  12. www.n-tv.de/politik/Hamas-ist-nach-dem-Massaker-deutlich-beliebter-article24598513.html .
  13. Vgl. dazu Theweleit Klaus (2021): Das Lachen der Täter: Breivik u.a.. Psychogramm der Tötungslust. Salzburg.
  14. https://twitter.com/BFMTV/status/1729403008834801972 .
  15. Twitter-Kanal des israelischen Außenministeriums, https://twitter.com/Israel/status/1716866876418949602 .
  16. Brief aus Berlin – kritische Wissenschaftler*innen an die deutsche Politik und Öffentlichkeit. https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSdQexuMBpgFM3PK0DJUtRwYd1ZuKo3bIvsNrShXc11orOmzrA/viewform .
  17. An Open Letter on the Misuse of Holocaust Memory. www.nybooks.com/online/2023/11/20/an-open-letter-on-the-misuse-of-holocaust-memory.
  18. Zu lesen unter https://www.nybooks.com/online/2023/12/08/an-exchange-on-holocaust-memory/ .
  19. https://kritischetheorie.wordpress.com/2024/01/01/gegen-den-globalen-antisemitischen-krieg-fur-israel/ .
  20. Vgl. Loick, Daniel (2012): Kritik der Souveränität. Frankfurt, S. 22ff.
  21. Ebd., S. 24.
  22. Loick, Daniel (Hg.) (2018): Kritik der Polizei. Frankfurt.
  23. Rothberg, Michael (2021): Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Bonn, S. 27.

Von Redaktion Pólemos

Angemessene Begriffe zu finden, fällt im Angesicht der sadistischen Brutalität schwer, mit der die Angreifer am 7.Oktober ein Massaker in Israel angerichtet haben. Unvorstellbar auch die schiere Anzahl der Mörder wie der Ermordeten. Nahezu jeder der über 1200 Menschen, die an diesem Tag ermordet wurden, wurde von Angesicht zu Angesicht von seinen Mördern umgebracht. Diese haben jugendliche Festivalbesucher, die wimmernd auf dem Boden um Gnade flehten oder in Panik flüchteten gezielt erschossen oder in ihren Autos verbrannt, zahlreiche Frauen systematisch vergewaltigt, verstümmelt und ermordet oder entführt, in den angegriffenen Kibbuzim wurden ganze Familien mit Seilen festgebunden und mitsamt ihren Häusern bei lebendigem Leib verbrannt, Kinder wie Erwachsene wurden mit Messern oder Spaten lebendig geköpft oder totgeprügelt. Von all diesem Grauen gibt es Videoaufnahmen der Täter, die Mörder haben ihre Taten mit Bodycams aufgezeichnet, und Selfies von sich und den geschändeten Leichen ihrer Opfer gemacht. Während ihrer Taten, die über viele Stunden andauerten, schrien sie immer wieder „Allahu Akbhar“ und „Jahudi“ (Jude) – und lachten dabei exzessiv. In einem aufgezeichneten Telefongespräch berichtet ein junger Hamas-Kämpfer „stolz seinen Eltern, dass er bereits zehn Juden getötet hat. Die Familie in Gaza bricht in Jubel aus und feiert ihn: ‚Mein Sohn ist ein Held‘, weint die Mutter. Es ist ein Freudentag für diese Familie in Gaza – denn ihr Sohn hat ‚Jahudis‘ getötet“ (1).

Gefilmt wird von den Tätern auch, wie sie Geiseln und Leichen als Kriegstrophäen in den Gazastreifen verschleppen, wo sie von einer feiernden Meute, abermals unter „Allahu Akbar“-Rufen empfangen werden; die Meute bespuckt die Geiseln und prügelt mit Holzlatten auf sie, darunter auch junge Frauen, die nackt ausgezogen und zum Spießrutenlauf durch die Menge gezwungen werden.

Am 7.Oktober 2023 setzten die Angreifer der Hamas jenen Hadith in die Tat um, den sie bereits 1988 in ihrer Charta als ihr Ziel ausgelobt hatten: die Vernichtung von so vielen Juden wie möglich: „Die Stunde wird kommen, da die Muslime gegen die Juden solange kämpfen und sie töten, bis sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken. Doch die Bäume und Steine werden sprechen: ‚Oh Muslim, oh Diener Allahs, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt. Komm und töte ihn!‘ Nur der Gharkad-Baum wird dies nicht tun, denn er ist ein Baum der Juden“ (2).

Dass diese barbarischen Taten, begangen von vielen hundert Mördern, möglich waren, setzt nicht nur eine jahre- und jahrzehntelange antisemitische Propaganda, sondern auch eine von den de facto Behörden der Hamas im Gazastreifen propagierte und der Gesellschaft dort allgemein akzeptierte radikale Entmenschlichung von Israelis und Juden voraus, die sich nicht mit den zweifellos elendigen Verhältnissen im Gazastreifen, nicht mit abstrakten Begriffen wie „Besatzung“ und schon gar nicht mit israelischen Siedlungen, die es im Gazastreifen nicht gibt, rationalisieren lässt.

In einem Punkt hatte UN-Generalsekretär Guterres also Recht, nämlich als er im UN-Sicherheitsraut über die Angriffe vom 7.Oktober sagte, sie seien „nicht im luftleeren Raum“, sondern in einem Kontext erfolgt. Nur dass ihm als „Kontext“ natürlich nicht die von der UN eifrig geduldete und mitfinanzierte Propaganda der Hamas gegen Juden, sondern gemäß der antisemitischen Logik, die seit dem 7.Oktober universal geworden ist, ausschließlich die israelische „Besatzung“ einfällt. Dabei ist es gerade die als Besatzung geschmähte Abriegelung des Gazastreifens sowie die tatsächliche Besatzung im Westjordanland, die dafür sorgen, dass es nicht alltäglich zu antisemitischen Massakern des „palästinensischen Widerstands“ kommt. Seit Jahrzehnten beweisen die Al-Aqsa Brigaden der Fatah, der Islamische Djihad und die Hamas durch zahlreiche Anschläge ihren Willen, wann immer möglich Juden zu töten.

Das Massaker der Hamas muss monatelang, mit kühlem strategischem Kalkül, in militärischen Übungsmanövern und zugleich einem glühenden fanatischen Hass auf Juden vorbereitet worden sein. Dabei wird schon bei Beginn der Planung der Angriffe auf Israel jedem Beteiligten völlig klar gewesen sein, dass Israel darauf gar nicht anders als mit militärischer Härte reagieren können wird. Dass mit der israelischen Reaktion auch die Bilder zerstörter palästinensischer Häuser und toter palästinensischer Frauen und Kinder durch die Weltmedien gehen wird, muss man zu den beabsichtigten Zielen der Angreifer rechnen. Nicht erst seit diesem Krieg, sondern schon in den vorangegangenen Gaza-Kriegen sorgt die Hamas dafür, dass israelische Angriffe auf militärische Infrastruktur mit möglichst vielen zivilen Opfern einhergehen, indem sie Waffen- und Raketenlager, Raketenabschüsse, und so weiter gezielt von ziviler Infrastruktur des Gazastreifens (etwa Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten) aus durchführt.

Jeder, der am 7. Oktober die brutalen Angriffe der Hamas feierte, ob in Gaza-Stadt oder Neukölln, musste wissen, dass die nächsten Wochen und Monate, für alle die im Gazastreifen leben müssen, zu einer harten und fürchterlichen Kriegsrealität werden. Einen Krieg, den es ohne den Angriff vom 7.Oktober nicht gegeben hätte und den die Hamas jederzeit beenden könnte, indem sie kapituliert. Glatt gelogen ist daher die Behauptung, den Feiernden ginge es um das Leid palästinensischer Zivilisten. Gefeiert haben sie nicht allein das Blutbad an Juden; in Berlin feierte man auch, dass man schon bald Gelegenheit haben würden, die eigenen Social-Media Kanäle mit Bildern getöteter palästinensischer Kinder zu fluten, um den eigenen, grenzenlosen Hass auf Juden zu rationalisieren und zu verbreiten. Und in Gaza feierte man das Einzige, was die Hamas politisch anzubieten hat: die Gelegenheit zur Massenproduktion von Märtyrern.

Dass die Hamas, wie es verniedlichend heißt, „Zivilisten als menschliche Schutzschilde“ benutzt, wenn sie etwa Frauen und Kinder daran hindert, Orte zu verlassen, an denen der nächste israelische Angriff vermutet wird, ist in diesem wie bereits in vergangenen Kriegen hinreichend belegt worden. Dabei geht es ihr nicht mal in erster Linie darum, israelische Militäraktionen zu vereiteln, wie die Rede vom „Schutzschild“ suggeriert, sondern um die massenhafte Produktion von Propagandabildern nach außen und Märtyrern nach innen. Während dieser zynische Todeskult, der bei jeder Gelegenheit öffentlich inszeniert wird, die palästinensische Gesellschaft im ewigen Kriegszustand zusammenhält und die Hamas keinen Unterschied zwischen zivilen und militärischen Opfern, sondern nur „Shahids“ kennt, lassen sich die Bilder der internationalen Propaganda als zivile Opfer andienen. Das hält aber auch westliche Medien nicht davon ab, diese grausame Propagandamaschinerie der Hamas zu bedienen.

Man hat die Angriffe der Hamas als Terroranschläge bezeichnet. Wenn man diesem Begriff noch das Adjektiv „antisemitisch“ hinzufügt, wäre an dieser Bezeichnung gerade noch so viel richtig, dass sie Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt in eine durchaus begründete Furcht um ihr Leben versetzt hat. Im Begriff vom „Terrorismus“ verschwinden aber alle Differenzen politischer Gewalt, sowohl zwischen den Motiven und Ideologien, im politischen Kontext als auch in der Durchführung. Als ob zwischen Brandanschlägen auf Gefängnisbaustellen oder gezielten Tötungen von Politikern und systematischem, enthemmten Massenmord keine substanziellen Differenzen bestünden. Ungeeignet ist der Terrorismusbegriff, weil er keine inhaltliche Unterscheidung zwischen bewaffnetem Widerstand, etwa gegen ein autoritäres Regime und kalkuliertem, antisemitischen Massenmord erlaubt.

Auch als ein Pogrom wurden die Angriffe bezeichnet und damit zu Recht in die fast tausendjährige Geschichte judenfeindlicher Pogrome seit dem ersten Kreuzzug im Jahr 1096 eingereiht. Auch wenn die historischen Pogrome keineswegs so spontan waren, wie es die begleitende Propaganda glauben machen wollte, waren sie doch nicht mit der militärischen Akkuratesse geplant, wie der Angriff der Hamas vom 7. Oktober, der vom Land, aus der Luft und vom Wasser aus koordiniert durchgeführt wurde. Auch wurden bei keinem einzelnen dieser Pogrome so viele Menschen an einem einzigen Ort in derart kurzer Zeit ermordet, wie hier – einzig die Novemberpogrome 1938 dürfte eine vergleichbare Dimension erreichen und das auf sämtliche Städte in ganz Deutschland verteilt. Natürlich lässt sich der 7.Oktober nur schwer mit den Novemberpogromen vergleichen und letztere lassen sich nicht isoliert davon betrachten, dass ihnen die vollständige Entrechtung der deutschen Juden vorausgegangen waren und die nahezu vollständige Vernichtung der europäischen Juden nachgefolgt ist.

Dennoch scheint, wenn man schon einen historischen Vergleich (was nicht dasselbe wie eine Gleichsetzung bedeutet) ziehen will, der mit den Einsatzgruppen der SS und des SD nach dem Einmarsch der Wehrmacht in der Sowjetunion naheliegender. In beiden Fällen waren die Täter organisierte militärische Einheiten, beide Male war ihr Ziel und ihr Befehl, so viele Juden wie möglich umzubringen, in beiden Fällen wurden binnen Stunden tausende Menschen von Angesicht zu Angesicht gezielt ermordet, gequält und vergewaltigt. Wichtig ist auch: In beiden Fällen handelten die Mörder im Rahmen eines Angriffskrieges, der in letzter Konsequenz nicht mehr auf eine irgendwie rationale politische Absicht zurückgeführt werden kann, sondern von der quasireligiösen Hoffnung auf Erlösung durch Judenmord getrieben war.

Dennoch gilt es einen wichtigen Unterschied von den Anschlägen vom 7.Oktober sowohl zwischen der Reichspogromnacht als auch den Massenerschießungen der SS festzuhalten: Anders als 1938 und 1941 gibt es heute einen jüdischen Staat, dessen vorrangiger Staatszweck darin besteht, zu verhindern, dass jemals wieder jemand die Gelegenheit haben wird, Millionen von Juden zu vernichten. Während 1938 auf der Konferenz von Evian auch die westlichen Staaten die Aufnahme weiterer jüdischer Flüchtlinge ablehnten (3), kann heute jeder Jude in Israel Zuflucht suchen; Weil Juden vor dem Antisemitismus nur dann eine sichere Zuflucht erhoffen können, wenn ein jüdischer Souverän für ihre Sicherheit sorgt, ist das Leben und die Sicherheit von Juden weltweit aufs Engste mit der Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit Israels verknüpft. Deswegen ist die Existenz Israels und insbesondere das verteidigungsfähige und militärisch gerüstete Israel, der größte Dorn im Auge aller Antisemiten weltweit. Für die Juden bedeutete die Shoah einen völligen Zivilisationsbruch. Dem Vernichtungsantisemitismus der Deutschen und ihrer Helfer, waren sie hilflos ausgeliefert. Dem mörderischen Treiben der Deutschen musste eine internationale Koalition Einhalt gebieten, welche die Befreiung der Vernichtungslager zuweilen anderen militärischen Zielen unterordnete. Und auch die übergroße Mehrheit der Täter blieb nach 1945 unbestraft. Das ist heute anders: Der Staat Israel kann selbst die Sicherheit seiner Bewohner wieder herstellen; er kann und wird die Täter sanktionieren (4). Der genozidalen Gewalt der Hamas wurde ein Ende gesetzt, die Taten sind traumatisierend und der Schrecken für die israelische Gesellschaft hält in Anbetracht andauernder Entführungen, sterbender Soldaten und Raketenbeschuss an – doch allein dank des Staates Israel ist es kein neuerlicher Zivilisationsbruch.

Man muss es dieser Tage immer wieder betonen: Israel ist dieser Krieg von der Hamas aufgezwungen worden. Noch am 6.Oktober wäre eine israelische Offensive in Gaza von allen Experten und Beobachtern als unwahrscheinlich eingestuft worden. Auch die Art der Kriegführung, gegen einen fanatischen Feind, der sich bewusst in dicht besiedelten Wohngebieten und Krankenhäusern verschanzt und jedes getötete palästinensische Kind für die eigene Propaganda ausschlachtet, hat sich Israel nicht ausgesucht.

Ob es gelingt, die Hamas ganz zu besiegen, wird sich zeigen müssen. Woher aber so viele Kommentatoren die Gewissheit nehmen, dass das militärisch per se gar nicht möglich sei, ist doch bemerkenswert. Man kann vielleicht verrückte Ideen nicht aus den Köpfen bomben. Aber man kann durchaus die militärische und materielle Infrastruktur zerstören, welche die materielle Herrschaft verrückter Ideen überhaupt erst ermöglicht. Und wer weiß, vielleicht ist es ja auch weniger attraktiv, sich für die völlig verrückte Idee zu engagieren, so viele Juden wie möglich umzubringen und dabei als Märtyrer zu sterben, wenn dafür keine Tunnel, Maschinengewehre, Bomben und Raketen mehr zur Verfügung gestellt werden, sondern nur noch Küchenmesser; wenn es keine finanziellen Mittel mehr für die Renten von Angehörigen der Märtyrer gibt, oder bei einer möglichen Besatzung des Gazastreifens der offene Judenhass und Märtyrerkult aus den Schulen, Jugendorganisationen und Moscheen verschwindet.

Der Massenmord am 7.Oktober war bereits der erste Sieg für die antisemitische Internationale von Hamas bis Iran, der Medienkrieg und die globale Propaganda gegen Israel ist der nächste. Dazu gehört, dass Juden sich nun weltweit vor Anschlägen fürchten müssen, dass in Dagestan ein von der russischen Regierung mindestens geduldetes antisemitisches Pogrom stattfand, dass in Europa und den USA Brandsätze auf Synagogen geworfen werden und die Wohnhäuser und Einrichtungen vermeintlicher oder tatsächlicher Jüdinnen und Juden mit Davidsternen gekennzeichnet und ihre Bewohner zur prospektiven Vernichtung freigegeben werden. Mit den Angriffen vom 7.Oktober hat ein weltweiter Krieg gegen die Juden begonnen, dessen Ende nicht so schnell absehbar ist.

Wenig Einfluss hat Israel darauf, was in Europa und den USA geschieht, wo sich längst eine breite antisemitische Front gebildet hat, die unter der Parole „from the river to the sea“ offen zur Vernichtung Israels und seiner jüdischen Bewohner aufruft und etwa jüdische Studierende gezielt bedroht. Schon heute zeichnet sich ein erschreckendes Bündnis ab, zwischen Islamisten unterschiedlicher Spielart und einer ebenso heterogenen globalen Linken, die vom postkolonialen Uni-Professor, über Fridays for Future bis hin zu den verschiedenen europäischen Linksparteien reicht. Dass ein Video von Osama bin Laden unter jungen amerikanischen Linken trendet, und zwar nicht trotz, sondern wegen seiner antisemitischen Tiraden über die Macht der Juden, hätte man noch nicht mal den schlimmsten Fraktionen der antiimperialistischen Linken der Nullerjahre zugetraut.

Während die Gefahr von Anschlägen durch Islamisten auf Juden und ihre Einrichtungen nochmal deutlich zugenommen hat, ist spätestens jetzt auch die politische Linke zu einer ernsthaften Gefahr für das Leben von Juden in Europa, den USA und Israel geworden. Ihre Agitation gegen die Sicherheit von Jüdinnen und Juden trifft hierzulande auf eine Zivilgesellschaft, die zwar mehrheitlich den „Terror“ der Hamas verurteilt, die aber bereits seit dem 7.Oktober nicht müde wird zu betonen, peinlich genau darauf zu achten, dass die israelische Selbstverteidigung bloß nicht über das Maß hinausgeht, dass man ihr gönnerhaft zugesteht. In absehbarer Zeit könnte kaum noch jemand übrigsein, der Israel öffentlich verteidigt.

Anmerkungen:

(1) So in einem Bericht der Jüdischen Allgemeinen über eine Vorführung für Journalisten in Jerusalem, von Filmmaterial von den Angriffen vom 7.Oktober. Online unter: www.juedische-allgemeine.de/israel/das-grauen-sichtbar-gemacht. Über eine ähnliche Filmvorführung in der israelischen Botschaft berichtet auch die jungleword (23.11.23): www.jungle.world/artikel/2023/47/videos-hamas-brutalitaet-massaker-vernichtender-hass.

(2) Eine deutsche Übersetzung der Charta der Hamas findet sich unter www.kritiknetz.de/images/stories/texte/charta%20der%20hamas.pdf.

(3) Und im Übrigen, was Kommunisten gerne verdrängen, auch die kommunistische Weltrevolution ausgeblieben ist, als sie am nötigsten war. Das ist nicht trivial, auch weil Sozialisten und Kommunisten durchaus mit einigem Erfolg gegen den Zionismus mit dem Versprechen agitierten, schon in naher Zukunft werde der Sozialismus dem Antisemitismus ein Ende bereiten. Vor 1933 war solche Agitation im Rückblick eine vielleicht tragische Fehleinschätzung mit fürchterlichen Folgen für viele Juden. Nach der Schoa ist solche Agitation bösartige Dummheit.

(4) Und noch etwas: Man kann sicher sein, dass sich die Gesellschaft und die staatlichen Institutionen Israels angesichts des 7.10. auch selbst mit den Fehlern der Sicherheitspolitik ihrer Regierung und mit den Auswirkungen des gegenwärtigen Krieges für die zukünftige Sicherheit Israels befassen. Denn anders, als die vielen deutschen Kommentatoren, die derzeit aus sicherer Entfernung kluge Ratschläge und strenge Kritik erteilen, die sie mit der Besorgnis um die israelische Sicherheit begründen, betrifft die israelische Sicherheitspolitik jeden Israeli existenziell. Auch das gehört zur jüdischen Autoemanzipation: sich nicht mehr von europäischen Fürsten und selbsternannten Freunden diktieren lassen zu müssen, was das Beste für ihre Sicherheit sei.  

Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir hier einen Text von Daniel Poensgen, der im Frühjahr 2018 in Pólemos #08 erschienen ist. Das Heft ist noch verfügbar und kann hier bestellt werden.

„Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten“

Zur Verbindung von Waffenexportkritik und bewaffnetem Staat

Von Daniel Poensgen

Dass der Flüchtling zwar zweifellos, aber doch nur im Notfall willkommen geheißen, in der Regel jedoch abgeschafft gehört in dem Sinne, dass kein Mensch fliehen müssen sollte, diese Einsicht bleibt all jenen versperrt, die von der politisch-ökonomischen Vorteilsnahme Deutschlands aus der massenhaften Fluchtbewegung erst recht nichts wissen wollen. Als ‚Migrant‘ wird der Flüchtling zum ‚Normalfall‘, wo doch der unbegreifliche Skandal darin besteht, dass Menschen vor Hunger, Gewalt und Armut das Weite und die Fremde suchen müssen – ein Umstand, der wohl kaum zu vergleichen ist mit den tatsächlich seit je her alltäglichen Migrationsbewegungen über staatliche und sonstige Grenzen hinweg. Bezeichnend für die Verfasstheit Deutscher Ideologie im 21. Jahrhundert ist vor diesem Hintergrund nicht zuletzt die linke Reaktion auf die Zunahme der Flüchtlingsbewegungen im Spätsommer 2015, die bis heute ungebrochen anhält.

1.496 Mal wurde ein am 17. November 2015 veröffentlichter Facebook-Beitrag des ARD-Nachrichtenmagazins Monitor geteilt, in dem der Redakteur Georg Restle seinen Phantasien zum Umgang mit IS und Flüchtlingen freien Lauf ließ: „Es ist ein verlockender Gedanke: Terrornester irgendwo da draußen auszuräuchern, dem islamistischen Spuk mit Militärschlägen ein Ende zu bereiten. Ein Endkampf, der die Brut ausrottet, die immer wieder morden lässt. Ein Gedanke, so (…) beruhigend, weil er unsere niedersten Bedürfnisse von Rache und Vergeltung befriedigt und so bequem, weil er jeden weiteren Gedanken überflüssig macht. Die alttestamentliche Sehnsucht nach Ausrottung aller Gottlosigkeit, sie lässt uns auch in diesen Tagen nicht los, sie kleidet sich nur neu in Worte von ‚gezielten Militärschlägen‘ und ‚europäischer Solidarität‘. Aber es ist und bleibt ein Wunschgedanke, ein naiver Traum vom Endsieg über den Terror. (…) Es ist ein Krieg, den die Mordgesellen des ‚IS‘ herbeisehnen, weil er ihren apokalyptischen Untergangsphantasien entspricht, ihrer Vorstellung eines Dschihad, der die Welt in Flammen setzt“ (1). Es ist beileibe kein Zufall, dass sich die deutsche Presse einen Krieg gegen den IS nur wie einen Vernichtungskrieg der Wehrmacht vorstellen kann. Es ist ebenso wenig ein Zufall, dass man sich zwar lustvoll diesen Vernichtungskrieg ausmalt, ihn selbst aber vordergründig ablehnt – um ihn den Juden in die Schuhe schieben zu können. Nur vor dem Hintergrund des antisemitischen Jargons der Friedensfreunde und Israelkritiker entsprechen die wahnhaften Assoziationen der Monitor-Redaktion irgendeiner Logik: Das jüdische Prinzip – für Restle die „alttestamentliche Sehnsucht nach Ausrottung“ – „kleidet“ sich „auch in diesen Tagen“ „neu“, es steckt sowohl hinter der Forderung nach „europäischer Solidarität“ als auch mit dem IS unter einer Decke, wobei es wieder mal die „Welt in Flammen setzt“ beim Traum vom „Endsieg“. Doch Deutschland – und die deutsche Presse in Gestalt von Georg Restle – übernimmt zum Glück auch Verantwortung: „Indem wir den Opfern von Krieg, Armut und Verfolgung hier eine Zuflucht bieten, schaffen wir auch die Voraussetzung dafür, dass ein Wiederaufbau dort gelingen kann. Indem wir ihnen hier vermitteln, dass nur eine offene Gesellschaft eine wahre Perspektive bietet, schaffen wir Veränderung auch dort. Auch so entziehen wir den Ideologen einer mittelalterlichen Diktatur ihre irrwitzige Legitimationsbasis. Nicht heute, aber morgen.“ Ein Deutscher glaubt seine Lügen selbst, und so ist selbstverständlich keine Rede davon, dass die Aufnahme von Flüchtlingen der Erweiterung eines Niedriglohnsektors in der Bundesrepublik dient und mit ihr ein Konjunkturprogramm einherging, dass den Binnenmarkt des Exportweltmeisters belebte und einem gut ausgebildeten Klientel Arbeits- und Ehrenamtsplätze verschaffte, ohne dabei ökonomische Bedürfnisse dauerhaft zu befriedigen.

„Die staatlichen Leistungen für Geflüchtete wirken wie ein kleines Konjunkturprogramm, denn ultimativ kommen sie vor allem deutschen Unternehmen und Arbeitnehmern durch eine höhere Nachfrage zugute“, weiß beispielsweise Marcel Fratscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, zu berichten. Durch dieses Konjunkturprogramm sei das Wirtschaftswachstum 2016 um 0,3% gewachsen, der positive Effekt werde sich aber in den kommenden Jahren noch verstärken, wie er versichert (2). Die Willkommenskultur, auf die man sich landauf, landab so viel einbildet, ist in erster Linie die Einfühlung in eine Art Abwrackprämie 2.0. Die Vorstellung, man würde den Syrern „nicht heute, aber morgen“ im Kampf gegen den IS und andere islamistische Banden helfen, indem der gut ausgebildete syrische, irakische und afghanische Mittelstand in deutschen Altersheimen arbeitet und indem man den Leuten, die in liberale Gesellschaften fliehen, erklärt, warum liberale Gesellschaften gut sind, ist nichts anderes als die mühevolle Rationalisierung der deutschen Haltung in der Geopolitik: Andere Staaten – oder gar das blanke Überleben der Individuen – sind uns egal und wir verdienen gut damit, vehement das Gegenteil zu behaupten. Dass es sich hierbei nicht bloß um eine empirisch deutsche, also von der Bundesrepublik Deutschland vertretene geopolitische Haltung handelt, sondern eben auch um eine deutsche im Sinne der Deutschen Ideologie, wird nicht nur deutlich an den Ergüssen der staatstragenden Presse, sondern auch an der zweiten politischen Forderung, die sich im Rahmen des Sommers der Migration in der deutschen Linken und darüber hinaus stärker artikulierte: Die Forderung nach dem Ende deutscher Waffenexporte.

„Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten“, weiß ganz in diesem Sinne der Lehrer und Waffenexport-Experte Jürgen Grässlin vor 300 bedauernswerten Schülern des Beruflichen Schulzentrums Bietigheim-Bissingen zu berichten. Ihm und zahlreichen linken und christlichen Initiativen und Bündnissen ist völlig klar: „Die Flüchtlinge, die heute in Deutschland ankommen, haben alle etwas gemeinsam: Sie fliehen auch vor unseren Waffen“ (3). Und tatsächlich werden beispielsweise Gewehre, die in Deutschland produziert, zumindest aber entwickelt und deren Produktionslizenzen in zahlreiche Staaten verkauft wurden, von den unterschiedlichsten Akteuren in nahezu allen Konflikten der Welt verwendet. Dass die sogenannten „Endverbleibserklärungen“, die garantieren sollen, dass verkaufte Waffen nur beim Käufer bleiben und nicht weitergegeben oder -verkauft werden dürfen, wie sämtliche internationale Verträge bloße Konvention sind, leuchtet der Friedensbewegung zwar nicht begrifflich ein, fällt ihr aber nichtsdestotrotz völlig richtig auf. Nun ist Linkspartei, Pax Christi, Aktion Aufschrei und wie sie heißen mögen durchaus entgegenzuhalten, dass all dies die Waffen nicht zu ‚unseren‘ macht, da man schließlich mit jenen Friedensfreunden gar nicht gemein gemacht werden will und es außerdem in Bezug auf die exportierten Waffen recht klare Eigentums- und Besitzverhältnisse gibt. Diese zu Verschweigen dient nur der Entschuldigung der Mörder und bisweilen dem Übersehen der Retter. Welche Rolle ‚deutsche‘ Waffen tatsächlich in den Konflikten einnehmen, aus denen in den letzten Jahren Millionen Menschen nach Europa geflohen sind, wäre zudem erstmal aufzuzeigen. Und doch möchte man der reflexhaften und sicherlich in der Regel völlig zutreffenden Kritik ideologiekritischer und antideutscher Kreise an jener Friedensbewegung entgegenhalten, dass deren Wunsch, an den kriegerischen Verhältnissen zwischen Staaten und anderen Kriegsfraktionen in keiner Weise beteiligt sein zu wollen, allzu verständlich ist. Nicht mitmachen wollen beim Morden in der Welt, wäre gerade den Deutschen wohl kaum vorzuwerfen. Dass die Friedensbewegung dabei Gewalt immer nur dann zum Krieg adelt, wenn sie zwischen staatlichen oder proto-staatlichen Akteuren ausgetragen wird, unterscheidet sie dabei auch nicht von weniger friedensbewegten Teilen der Bevölkerung. In der Polemik gegen diese Kritik am Krieg bei gleichzeitigem Verschweigen anderer Formen von Gewalt geht jedoch verloren, dass sie zumindest implizit noch eine Ahnung vom Unterschied zwischen unvermittelter Gewalt und den bürgerlichen Formen, die auf Gewalt beruhen, umtreibt.

Was würde Jesus zu Waffen-Deals sagen?

Und doch vermag die Kritik an der Forderung, Waffenexporte zu verbieten, eine ideologische Konstellation aufzuzeigen, die typisch für den Deutschen als Staatsbürger ist. Sie ist viel weniger durch eine Verweigerung der persönlichen Beteiligung an der falschen Einrichtung der Gesellschaft als durch ein Engagement für eine bestimmte Sache – die deutsche – bestimmt, ein Engagement, dass sich als solches aber nicht zu erkennen gibt. Diese Kritik bleibt somit auch nicht bei der völlig marginalisierten Friedensbewegung und ihren publizistischen wie parlamentarischen Vorfeldorganisationen stehen – dass Waffenexporte aufhören sollen, ist den Deutschen insgesamt völlig einleuchtend. Einer Emnid-Umfrage zu Folge verneinten 83% der Deutschen die Frage, „einmal grundsätzlich betrachtet, sollte Deutschland ihrer Meinung nach Waffen und andere Rüstungsgüter in andere Länder verkaufen?“ (4). In der Bild-Zeitung fragt Margot Kässmann: „Was würde Jesus zu deutschen Waffen-Deals sagen?“ (5). Auch ohne Bibel-Beleg ist die Antwort wenig überraschend: „Er hat die Friedensstifter selig gepriesen, keineswegs die Waffenproduzenten und die Rüstungslobby.“ Im verzweifelten Wahlkampf versucht sich die SPD als Oppositionspartei, auch wenn ihr staatstragendes Agitieren gegen den Waffenhandel etwas zahnlos wirkt: Sigmar Gabriel traut sich dann auch nicht mehr als eine stärkere Beteiligung des Bundestags bei der Genehmigung vom Verkauf von Rüstungsgütern zu fordern: „Es braucht keine Geheimniskrämerei“ (6).

Auffallend an der Forderung sind vor allem drei Dinge: Zum einen wird das Ende der Waffenexporte als probates Mittel zur Lösung von Konflikten weltweit betrachtet. Wenn die Konfliktparteien erstmal keine Waffen mehr besitzen, so die bestechende Logik des gesunden Menschenverstandes, können Sie auch keine Kriege mehr führen und müssen miteinander in den viel gerühmten Dialog treten – ein Dialog, der im Übrigen als quasi zwischenstaatlicher ohne das jeweils zur Verfügung stehende Vernichtungspotential der Konfliktparteien gar nicht gedacht werden kann, jedoch permanent als gewaltfrei affirmiert wird. Ist die Wirkung der Verfügbarkeit von bestimmten Waffen auf bestimmte Konflikte gar nicht zu bestreiten, ist die Logik der Waffenexport-Kritik vor allem deshalb interessant, weil andere Forderungen zur Beendigung beispielsweise des Syrien-Krieges überhaupt nicht mehr zum Tragen kommen. Mit dem Ende der Waffenexporte (und den Integrationskursen für Flüchtlinge) scheint das Problem erledigt. Zum zweiten ist die Forderung nach dem Export-Stopp generell: Details, wer in welchem Umfang welche Waffen bezieht, interessieren in der Bewertung auf Seiten wie http://www.waffenexport.org nicht, auch wenn man den geneigten Leser mit einer wahren Flut von Zahlen und Statistiken zu überzeugen versucht. Tatsächlich skandalöse und politisch irrwitzige Waffenverkäufe gehen im Wust der Empörung völlig unter. Den Gegnern der Waffenexporte sind die nach Litauen gelieferten Jagdgewehre ein ebenso großer Skandal wie die Auslieferung einer Fregatte nach Algerien (7). Die einzige Forderung, die die Kampagne Aktion Aufschrei formuliert, lautet: „Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter werden grundsätzlich nicht exportiert“ (8). Es geht prinzipiell ums Prinzip, aber eben doch nur im Prinzip: Besonders auffallend ist in der Kritik der Waffenexporte nämlich drittens, dass sie eben nicht generell gegen die Rüstungsindustrie gerichtet ist, sondern sich lediglich auf die Exporte beschränkt. Die Produktion hingegen wird völlig außer Acht gelassen. Die deutsche Friedensbewegung hat nichts dagegen, wenn in Deutschland Waffen gebaut werden, sie will sie nur nicht abgeben – egal, an wen. So taucht beispielsweise in den Schritten auf dem Weg zur Erfüllung der oben zitierten Forderung der Aktion Aufschrei frei nach dem Motto ‚Schwerter zu Windkraftanlagen‘ die „Umstellung der Rüstungsindustrie auf nachhaltige [!] zivile Produkte“ erst als letzter von sechs Punkten auf (9), wo es doch logisch wäre, mit dem Stopp der Produktion zu beginnen, wenn man das Ziel globaler Abrüstung verfolgt. Auch jener Teil der Produktion, der Deutschland nicht verlässt, findet bei den Kritikern keine Erwähnung. Folgerichtig kann sich Martin Schulz in einem Gastbeitrag für Spiegel Online gegen Waffenexporte positionieren (10) und gleichzeitig der Bundeswehr mehr und bessere Ausrüstung versprechen (11), ohne dass es irgendjemanden stören würde. Generell spielt die Forderung, die Bundeswehr abzuschaffen oder zumindest abzurüsten, verglichen mit dem Wunsch, mit Waffen keinen Handel mehr zu treiben, auch im Kern der Friedensbewegung so gut wie keine Rolle mehr (12). Wie noch an anderer Stelle gezeigt wird, wird über Abrüstung nur dann gesprochen, um sich als Gegenhegemon gegenüber der USA in Stellung zu bringen.

Die Goldenen Nasen der Rüstungslobby

Warum hält sich die Friedensbewegung, wenn es um die Rüstungsindustrie geht, so verdächtig still? Es ist naheliegend, diese Beschränkung der Waffenexport-Gegner auf den Handel bei gleichzeitiger Nicht-Beachtung der Produktion mit jenen Überlegungen zu konfrontieren, die Moishe Postone in Bezug auf die antikapitalistische Revolte der Nationalsozialisten anstellte. Soziale Verhältnisse werden im Kapitalismus nicht als solche, sondern vergegenständlicht, fetischisiert, als zweite Natur wahrgenommen. Auf unterschiedlichen Ebenen – der Ware, des Kapitals – erscheinen diese Beziehungen als Antinomie zwischen Abstrakt-Gesellschaftlichem und Konkret-Naturhaftem. In Form eines potenzierten Fetischs nimmt der Antisemit aber auch die abstrakte Seite der Antinomie wiederum konkret und personifiziert in Gestalt des Juden wahr. So wird beispielsweise das Geld, die Banken oder die Finanzsphäre generell als kapitalistisch, jüdisch oder ‚raffend‘ abgelehnt, während Industrie und Produktion als natürlich und ‚schaffend‘ weiterhin affirmiert werden können.

Friedensbewegung und Kritiker der Waffenexporte halten an dieser Projektion – freilich dem postnazistischen Jargon entsprechend verschoben – fest. Die Industrie taucht als solche in ihren Äußerungen so gut wie nicht auf – dagegen stehen die Waffenhändler als „Händler des Todes“ (Aktion Aufschrei) im Fokus. Wenn die Rüstungsindustrie überhaupt erwähnt wird, dann als Lobby: Protestaktionen werden mitunter direkt vor den Büros der für die Firmen arbeitenden Lobbyisten durchgeführt. Auch so kann die Sphäre der Produktion von Kritik ausgespart werden, während man Mechanismen der Vermittlung wie Handel und Lobbyismus ressentimenthaft angeht und die Politik als machtlosen Spielball jener Lobbyisten wähnt. Vom Profitieren ganzer Gemeinden und Kommunen von eben jener Industrie, von den zahlreichen Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie und in den vom militärischen Zweig gar nicht zu trennenden zivilen Sparten der Unternehmen und ihrer Zulieferer, von all jenen unangenehmen Fragen an die Volksgemeinschaft der Steuerzahler schweigt man lieber. Stattdessen werden sieben Manager ausgemacht, die als Einzige vom Waffenhandel profitieren sollen. Unbewusst, aber umso treffsicherer in der Bedienung antisemitischer Bildsprache, stellt ein Bündnis aus linken und kirchlichen Waffenexport-Kritikern riesige goldene Nasen vor dem Bundestag auf (13). Den angeblich Wenigen, die vom Waffenhandel profitieren, will man so, wie es auf der Website heißt, „Name und Gesicht“ geben.

Einfühlung in die Kanone

Doch in dieser fetischisierten Wahrnehmung fetischisierter Verhältnisse geht das Agieren der deutschen Linken nicht auf. Wie das Kapital auf das Recht angewiesen ist, damit die Warenhüter den Tausch überhaupt vollziehen und der Wert sich verwerten kann, ist die Einfühlung in den Wert als automatisches Subjekt durch die Subjekte als Bourgeois gar nicht von ihrer Einfühlung in den Staat als Gewaltmonopolisten und ideellen Gesamtkapitalisten zu trennen. Die Forderung, Waffen nicht zu exportieren, wo man doch gegen ihre Produktion nichts einzuwenden hat, ist nicht zuletzt aus dieser Einfühlung der Staatsbürger zu erklären: Empathie mit einem Staat, den man sich zugleich als ökonomisch erfolgreich und militärisch machtvoll wünscht.

In einem Brief vom Dezember 1938 schreibt Benjamin an Adorno, auf dessen These vom Konsum des Tauschwerts antwortend: „In der Tat kann man sich unter dem ‚Konsum‘ des Tauschwerts schwerlich etwas anderes vorstellen als die Einfühlung in ihn. Sie [Adorno, D.P.] sagen: ‚Recht eigentlich betet der Konsument das Geld an, das er selber für die Karte zum Toscanini-Konzert ausgegeben hat.‘ Einfühlung in ihren Tauschwert macht noch Kanonen zu demjenigen Konsumgegenstand, der erfreulicher ist als Butter. Wenn der Volksmund von jemandem sagt, ‚der ist fünf Millionen Mark schwer‘, so fühlt sich derzeit die Volksgemeinschaft selbst einige hundert Milliarden schwer. Sie fühlt sich in diese Hunderte von Milliarden ein. (…) Die Weltausstellungen (…) waren die hohe Schule, auf der die vom Konsum abgedrängten Massen die Einfühlung in den Tauschwert lernten“ (14). Die These von der wenn auch ‚trügenden‘ Übernahme der Funktion des Gebrauchs- durch den Tauschwert und die damit verbundene scharfe Trennung zwischen beiden, wie sie von Adorno für die Kulturgüter in seinem Essay Über den Fetischcharakter in der Musik vorgenommen wird (15), ist häufig Gegenstand von Kritik geworden.

Wie Gerhard Scheit festgestellt hat, wählt Benjamin nicht zufällig oder zum bloßen Kontrast neben der Butter die Kanone als Beispiel für die Einfühlung in den Tauschwert: „Darin steckt der Bezug auf ein ‚anders gelagertes‘ gesellschaftliches Verhältnis – eines, das mit Tauschwert und Kapital ursprünglich zwar nicht zusammenfällt, aber dafür die Conditio sine qua non bildet: der Bezug auf den Staat, der bekanntlich das Monopol in der Anwendung der tödlichen Gebrauchswerte bedingungslos beansprucht. Wenn es also eine Einfühlung ins real Abstrakte geben kann, so ist sie zwangsläufig im und durch den Staat vermittelt. Kanonen und Könige, U-Boote und Führerfiguren verschmelzen zu einem einzigen Identifikationsobjekt, das jene Konkretheit bietet, die dem Wert selbst fehlen muß. Dabei ist sein innerster Kern nichts anderes als dessen totale Abstraktion: Volksgemeinschaft ist Einfühlung ins Vernichtungspotential des Staates… Erst als Volksgenosse bekennt sich das Individuum voll und ganz zu jener Charaktermaske, die es im Verhältnis zum Kapital immer war und sein muß, solange Kapital existiert hat und existieren wird; erst als national gesinnter Staatsbürger kann es mit allen Sinnen und rückhaltlos bejahen, daß es nichts anderes sein möchte als die Personifizierung von Kapital und Staat“ (16).

Adorno vermisst in seiner Kritik an Benjamins Baudelaire-Buch die Vermittlung der beobachteten Phänomene durch die gesellschaftliche Totalität, die erst auf den Begriff zu bringen wäre. Dies angedeutet wäre im Sinne Scheits mit Benjamin zu argumentieren, dass die Einfühlung in den Tauschwert vielmehr eine in den Wert als automatisches Subjekt ist und diese eben nur in Verbindung mit der Einfühlung in den Staat von Statten geht. Für ersteres spricht Benjamins Interpretation des Mannes der Menge bei Poe, der, von Anstößen getrieben, die Konjunktur imitiere, die der Ware ihre Stöße versetzt: „Die Leute verhalten sich bei ihm [Poe, D.P.] so, als wenn sie nur noch reflektorisch sich äußern könnten“ (17). Aber auch aus Baudelaires Flaneur „spricht die Ware selbst“ (18), die Subjekt des Rauschzustandes in der Großstadt ist, in den sich dieser begibt (19). Die Verbindung dieser Einfühlung in die „Warenseele“, wie Benjamin mit Marx schreibt, mit der Einfühlung in den Staat legt er selbst ebenfalls nahe – auch über die Erwähnung von Butter und Kanonen hinaus: Die Weltausstellungen, die Benjamin als „hohe Schule“ für die Einfühlung in den Tauschwert bezeichnet („Alles sehen, nichts anfassen“), zeigen die Waren schließlich als Ausdruck nationaler – also staatlicher – Produktion. Als Teil einer Volksgemeinschaft – und somit Staatsbürger – ist es dem Subjekt dann auch möglich, was ihm als mittelloser Vereinzelter unmöglich ist: Es fühlt sich „milliardenschwer“ auf den Schultern von VW, Siemens und eben EADS. Zur Einfühlung in das staatliche Vernichtungspotential tritt eine in den unterm Staat akkumulierten Wert – profitiert man individuell nur höchst vermittelt von dieser Verwertung, wird die Exportweltmeisterschaft dennoch gefeiert, ohne dass es hierfür einer Fan-Meile bedürfte, während man zugleich seit Jahren auf die fällige Lohnerhöhung verzichtet. Die stagnierende Reallohnentwicklung in Deutschland ist der augenscheinliche Beweis, dass sich gerade die Deutschen lieber in den Tauschwert der Kanone einfühlen als in den Gebrauchswert der Butter.

Die von Benjamin beschriebene Einfühlung in den Tauschwert der Kanone wäre somit zu verstehen als Hinweis auf die doppelte Identifikation der Staatsbürger mit dem Staat als Gewaltmonopolisten und ideellen Gesamtkapitalisten. Den Waffenhandel verbieten und gleichzeitig von der Produktion dieser Waffen nichts wissen zu wollen, diese paradoxe Position verweist auf jene doppelte Einfühlung. Und tatsächlich spricht aus jeder Publikation der Waffenexport-Gegner auch die Faszination für die Produkte der Rüstungsindustrie und ihre tatsächlich mörderische Effizienz. Videoclips wie der zum Waffenexport-kritischen Lied Vaterland der Band Silly (20) unterscheiden sich in ihrer Ästhetik kaum von den Werbevideos von Rheinmetall und Co: Panzer, Schiffe und Flugzeuge in Formation und bei Paraden, Gewehre und Kanonen, die in Zeitlupe abgefeuert werden, Fahrzeuge, die dynamisch durch weite Landschaften pflügen. Selbst die schließlich hineingeschnittenen Bilder von Kriegsopfern wirken in ihrem Kontext eher als eine Demonstration der Effektivität der zuvor gezeigten Waffen, schließlich ist Deutschlands „Wertarbeit bis heute legendär“, wie man bei Bildern von grasenden Rehen auf einer Waldlichtung erfährt. Bei dieser Faszination spielt der Gebrauchswert nach wie vor eine zentrale Rolle: Im Falle der Rüstungsgüter als tatsächliches Potential der Vernichtung.

Denn bei allem Stolz auf deutsche Wertarbeit, der auch bei den gänzlich unpatriotischen Linken aus ihrer Affirmation für die Produktion und der Faszination für Waffentechnik spricht, soll sich der Wert dieser spezifischen Ware also anders als der Wert der Butter nicht im Tausch realisieren. Die Möglichkeiten der Vernichtung wollen die Deutschen auch unabhängig von ihrem Versuch, den Kapitalismus immer nur konkret zu fassen, nicht aus der Hand geben. Man bereitet sich innerlich schon auf die gewaltvolle Manifestation des Ausnahmezustands zwischen den Staaten vor, und dafür will man den eigenen Staat gut gerüstet wissen. Der bundesrepublikanische Volksgenosse denkt sich nicht nur „milliardenschwer“, sondern auch bis an die Zähne bewaffnet: So wachsen in einem weiteren Video (21), produziert von der Linkspartei und von dieser als „sehr schön, schaurig“ (22) beworben, dem Bundesadler unter den Flügeln Maschinengewehre. Diesem Wunsch nach militärischer Stärke ordnet man auch die Realisierung des Werts der Rüstungsgüter als Waren unter. Den zumindest unmittelbaren Widerspruch zwischen Akkumulation von Kapital und Vernichtungspotential müssen die Waffenexport-Gegner mühevoll rationalisieren, kommt das Gespräch doch mal auf die Rüstungsindustrie. So versucht beispielsweise Sarah Wagenknecht die eigene Anhängerschaft zu beruhigen: „Im Vergleich etwa zu den USA ist die Bedeutung des militärisch-industriellen Komplexes in Deutschland gering: Der Beitrag der Rüstungsindustrie zur gesamten Wertschöpfung liegt – großzügig berechnet – bei rund einem Prozent, der Anteil der Beschäftigung in der Rüstungsindustrie an der Gesamtbeschäftigung bei maximal 0,24 Prozent“ (23). Die wundersame Schöpfungsgeschichte des Wertes in Deutschland soll durch die eigene Forderung, mit Waffen keinen Handel mehr zu treiben, auf keinen Fall bedroht werden.

Dabei ergibt sich das spezifisch Deutsche an dieser Einfühlung in Wert und Staat nicht ausschließlich aus der Intensität dieser Einfühlung, sondern auch aus ihrem spezifischen Charakter. Sie tritt nicht als Nationalismus oder Chauvinismus auf: Gerade den deutschen Linken käme der Wunsch, Deutschland solle ökonomisch wie militärisch noch schlagkräftiger werden, nicht über die Lippen. Sie müssen ihre Sehnsucht nach Omnipotenz nicht zuletzt vor sich selbst in die Forderung nach dem Ende von Waffenexporten kleiden, um so die eigenen geopolitischen Ambitionen als Dienst am Allgemeinen, am „friedlichen Zusammenleben der Völker“, wie es im Grundgesetz heißt, verkaufen zu können.

Infantilisierung und Schuldabwehr

Die Wahrnehmung dieser Völker und ihres Zusammenlebens, die aus der Forderung nach dem Ende von Waffenexporten spricht, ist ein weiterer Aspekt der ideologischen Verfasstheit deutscher Waffenhandels-Gegner. Im Glauben, durch das Ende von Waffenlieferungen Konflikte beenden zu können, zeigt sich eine Infantilisierung der Konfliktparteien, deren eigentliches Ziel es ist, sich selbst von jeder Schuld am Vernichtungskrieg der Deutschen freizusprechen.

Es gleicht der Logik eines überforderten Lehrers bei der Pausenaufsicht: Zwei Kinder streiten und verprügeln sich mit Stöcken, also nimmt man ihnen die Stöcke weg. Für viel mehr pädagogische Intervention bleibt keine Zeit, und siehe da – es funktioniert. So stellt sich die Friedensbewegung, die nicht ohne Zufall zu einem großen Teil aus pensionierten Lehrern besteht, auch die Lösung eines internationalen Konfliktes vor. Nimmt denen doch mal die Waffen weg, dann vertragen die sich schon!

Von einer materialistischen Analyse, die eine mangelnde beziehungsweise ungleichzeitige Integration unter fragwürdigen historischen Konstellationen entstandener Staaten in den Weltmarkt in den Blick nähme, die das Entstehen von Konflikten und den Zulauf zu bestimmten Ideologien begünstigt, Ideologien, die geeignet sind den Charakter solcher Konflikte grundlegend zu verändern – von jeder Denkanstrengung, die die Verfasstheit der Welt und der Subjekte ernst und in den Blick nimmt, keine Spur. Stattdessen werden die ohnehin nur fetischisiert erscheinenden Verhältnisse weiter fetischisiert, indem der Mensch nur noch zum Anhängsel der Waffentechnik wird. Wenn der Drittländer, im Jargon der Waffenhandelsregulierung eine besonders schlimme Form des Ausländers, eine Waffe hat, wird er sie einsetzen. Zur Verantwortung zu ziehen, ist er dafür jedoch nicht, schließlich ist er nur ein schuldloses Anhängsel. Spricht hieraus zweifelsohne die rassistische Infantilisierung eines Großteils der Weltbevölkerung aus linksdeutscher Perspektive, zielt diese Infantilisierung und Entschuldung doch letztlich auf die Deutschen selbst.

So wird im bereits erwähnten Vaterland-Lied, in dem das Ende aller Waffenexporte gefordert wird, zwar zunächst die Möglichkeit aufgeworfen, aufgrund der Verstrickung Deutschlands in den Waffenhandel dieses Land nicht mehr lieben zu können, also Schuld eingestanden. In einer Erklärung, die im YouTube-Video den eigentlichen Video-Clip einbettet, lassen die Ostrocker dann jedoch keinen Zweifel mehr daran, dass es ihnen doch viel mehr um eine Entschuldung des Deutschen Volkes geht: Waffenhandel „ist ein Thema, das uns schon lange beschäftigt, das viele Fragen zur deutschen Geschichte und den Gewinnern des Krieges aufruft. Und, ganz ehrlich, in Anbetracht der jüngsten Kriegsereignisse auf der Welt sind wir absolut erschüttert. Dieses Video richtet sich nicht gegen die Menschen, die ihr Land und ihre Familien verteidigen, sondern gegen die Waffenlobby und all jene, die sich am Tod bereichern.“ Welche Fragen zur deutschen Geschichte durch aktuellen Waffenhandel bei Silly aufgeworfen werden, bleibt das Geheimnis der Band, die Antwort wird aber deutlich: Schuld am Weltkrieg sind nicht die Deutschen, die ja ihr Land und ihre Familien verteidigt haben, sondern die Waffenlobby und „all jene, die sich am Tod bereichern“ – vage Formulierungen, bei denen man sich umso sicherer sein kann, dass sie alle verstehen. Sich am Tode anderer zu bereichern, statt ihn völlig selbstlos aber dafür millionenfach herbeizuführen, das gilt den Deutschen spätestens seit Himmlers Posener Reden als eigentlich übelste Form des moralischen Verfalls.

Vor SS-Gruppenführern hatte der „Reichsführer SS“ festgehalten, dass man bei der „Ausrottung des jüdischen Volkes“, „von menschlichen Ausnahmen abgesehen“, doch „anständig geblieben“ sei und bei der Ermordung „keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter“ genommen habe, jedoch: „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder mit sonst etwas zu bereichern“ (24).

Die tatsächlichen Gewinner jenes Krieges, den Silly zweifelsohne mit ihrem Gerede von „deutscher Geschichte“ oder „geschichtlicher Verantwortung“ meinen, auch wenn sie ihn nicht mal benennen können, sind dann auch tatsächlich wichtigere Waffenexporteure als Deutschland: USA, Russland und Frankreich haben von 2011-2015 allesamt einen größeren Anteil am weltweiten Waffenhandel (25). Die Kritik am Waffenexport ist Schuldabwehr und Hass auf die Konkurrenz in einem.

Verdrängung der Gewalt

Die skizzierte Vorstellung, ohne die Lieferung von Waffen gäbe es keine Konflikte mehr, beruht jedoch nicht nur auf der Infantilisierung der Kriegsgegner durch die Friedensbewegung oder deren Versuch, die Schuld an Weltkrieg und Judenvernichtung zu verleugnen. Sie ist ebenso Ausdruck der Verdrängung der Gewalt aus dem Staat und den internationalen Beziehungen, die vielmehr mit den Mitteln der Innenpolitik gefasst werden sollen. So wird der Staat als an sich gewaltlos gedacht, das Gewaltvolle externalisiert, in diesem Falle auf einzelne Kapitalfraktionen, die wiederum nur als Lobby und Händler imaginiert werden können. Dies dient bereits der Rationalisierung eines Widerspruchs, dem die Staatsbürger nicht entrinnen können: Um als Einzelne vor der Gewalt geschützt zu sein, in einer Welt, in der jeder jeden töten kann und ökonomische Konkurrenzverhältnisse und prekäre Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung die Anwendung von Gewalt auch nicht gerade abwegig erscheinen lassen, müssen diese die einzig beim Souverän liegende Möglichkeit zur legitimen Gewaltanwendung akzeptieren, ein Souverän der auch jenseits des Ausnahmezustandes den Tod des Einzelnen als Verurteilter oder Soldat durchsetzen oder einfordern kann. Dass der Einzelne dieses so widersprüchliche wie beängstigende Verhältnis akzeptiert, liegt an der existenziellen Bedrohung, die ihm jenseits des Schutzes durch den Souverän droht: Ökonomische Überflüssigkeit als Bourgeois, Staatenlosigkeit als Citoyen. Die Anstrengung, die Subjekte in einem Staat zu entwaffnen, muss sich genau dieser Dialektik aus Beendigung gewaltvoller Verhältnisse und der Verallgegenwärtigung von Gewalt stellen, und unter anderem aus ihr wären unterschiedlich strenge Waffengesetze innerhalb der Staaten zu deuten.

Doch so wenig die Waffenexport-Gegner die gewaltvollen Verhältnisse in ihrem Staat zur Kenntnis nehmen wollen, so wenig wollen sie zwischen dem Verhältnis von Staatsbürgern in einem Staat und den Beziehungen der Souveräne zueinander unterscheiden. Sie sind in diesem Sinne, mit Scheit gesprochen, politisch engagiert: „Die Illusion [einer möglichen Befriedung zwischen den Staaten ähnlich der zwischen den Bürgern, D.P.] aber entsteht immer wieder neu aus dem Bedürfnis, sich darüber hinwegzutäuschen, dass die Form des Staats selber, die im Innern die Befriedigung ermöglicht, diesen latenten Kriegszustand im Äußeren zur Bedingung hat. Appeasement in dem Sinn, in dem es der Nationalsozialismus entlarvt hat, (…) beruht also stets darauf, das Gewaltverhältnis zwischen den Staaten auszublenden; zu verdrängen, dass der Staat als Gewaltmonopol und organisierter Zwang, der die Kapitalakkumulation gewährleistet, auf diesem Gewaltverhältnis fußt. Appeasement ist darum der Inbegriff des politischen Engagements. Indem das Wesen des Staats ausgeblendet wird, wiederholt man in der Ideologie, was der Unstaat in der Praxis unternimmt und fördert wissentlich oder unwissentlich den Zerfall der Gesellschaft und des Staats in Rackets – wozu bereits gehört, den internationalen Institutionen, die ihrem Wesen nach allesamt auf Abmachungen zwischen Staaten gründen, tendenziell mehr Bedeutung zuzusprechen, als sie demgemäß haben können“ (26). Die Waffenexport-Kritiker sehen die Gewalt als etwas dem Staat und dem Verhältnis der Staaten Äußerliches, was erst durch die Gier der Waffenhändler und Rüstungslobbyisten diesem zugefügt wird.

Doch auch im politischen Bewusstsein der Deutschen – friedensbewegt oder nicht – verschwindet die Gewalt nicht einfach. Sie wird projiziert auf den Staat Israel. Er allein erscheint als gewaltvoller Souverän. Und so ist zum einen auch zu erklären, warum die Forderung des Waffenexport-Stopps immer eine allgemeine ist, zum anderen, warum die Nicht-Behandlung der doch so populären Forderung in der Regel völlig gelassen hingenommen wird: Israel soll mit dem Ende des Waffenhandels getroffen und seiner Möglichkeit beraubt werden, sich gegen die mörderischen Feinde an seinen Grenzen wehren zu können. Damit die deutsche Volksseele in Form von Gedichten und Antisemitismus-Diskussionen in Wallung gerät, reichen keine Verkäufe von Panzern nach Saudi-Arabien, von Fregatten nach Algerien, von Kleinwaffen nach Mexiko. Es müssen schon U-Boote für Israel sein, damit sich mit der Forderung, Waffenexporte zu verbieten, Deutsche aller Länder mobilisieren lassen.

Deutsche Politik kennt kein Interesse

Diese Gemengelage aus völkischem Antikapitalismus, Einfühlung in den Staat als Gewaltmonopolist und ideellem Gesamtkapitalisten, aus Schuldabwehr, Infantilisierung, Verdrängung der Gewalt und Hass auf Israel trifft in der Forderung, Waffenexporte zu verbieten, auf eine spezifische Form des Politikverständnisses, wie sie eben auch aus dem eingangs zitierten Text der Monitor-Redaktion spricht. Dieses Verständnis gibt vor, kein materielles oder geopolitisches Interesse zu haben. Indem Machtpolitik offen kritisiert und angegangen wird, setzt man eigene ökonomisch-geopolitische Interessen rücksichtslos durch. Es ist dies eine Politik, die keine sein möchte, die aber umso vehementer anderen Politik vorwirft und das heißt in diesem Falle, für nationalstaatliche Interessen offensiv und mitunter öffentlich einzutreten. Mit diesem Politikverständnis einher geht ein rücksichtsloser Unilateralismus, der im Bestreben, das große Ganze – den Frieden, das Klima, die Flüchtlinge – zu retten, keine Freunde, keine bindende Abmachung, aber auch keine Gegner oder Konkurrenten kennt. Weil der deutsche Unilateralismus vermeintlich kein Interesse bedient, betreibt er Politik mit den Mitteln der Pädagogik: Wer sich den Deutschen Interessen nicht anschließt, verstößt gegen ein höheres, moralisches Prinzip, lässt Einsicht vermissen und kann daher mit Abstrafung rechnen. Wer das Klima-Abkommen neu verhandeln will, trägt Schuld an der Zerstörung der Erde. Wer plötzlich keine Flüchtlinge aufnimmt (um sie kurz darauf wieder weiterhin abzuweisen), der zeigt überhaupt seine Unmenschlichkeit. Und wer Nato-Staaten dazu bringen will, Ausgaben für ihre Bewaffnung und Aufrüstung wie abgesprochen zu verteilen, gefährdet den Frieden der Welt.

Deutschland geht freilich einen anderen Weg: Es verstößt einfach gegen die im Pariser Abkommen gesetzten Ziele zur CO2-Reduktion, anstatt diese wie die Trump-Regierung neu verhandeln zu wollen, um deren Forderung dann als „Schlag ins Gesicht der Menschheit“ (Germanwatch) abqualifizieren zu können (27). Es setzt internationale Abkommen, so schrecklich sie auch wie im Falle von Dublin II oder Schengen sein mögen, kurzerhand außer Kraft, um sie, ist erstmal das ökonomische Interesse befriedigt, wieder umzusetzen, unabhängig vom Chaos, dass man durch diese Politik in Staaten ohne Arbeitskräftemangel anrichtet – aber auch ohne Rücksicht auf die Situation in den scheiternden Staaten, aus denen der neue deutsche Niedriglohnsektor flieht. Und es ignoriert ein Abkommen von 2002, dass alle Nato-Staaten zu Rüstungsausgaben von 2% ihres BIP verpflichtet, und das, hielten sich alle Länder an diesen Wert, zwar zu einer Mehrbelastung der Bundesrepublik, aber zu insgesamt 18% weniger Rüstungsausgaben der Nato führen würde – ausgerechnet mit dem Verweis, dass angesichts des enormen wirtschaftlichen Erfolgs Deutschland diese Einhaltung eines internationalen Vertrages unzumutbar sei (28).

Wenn dann wiederum Trump fordert, klare Schritte der Europäer zur Einhaltung des Abkommens festzulegen, wird er für Schubsereien vor dem Pressefoto und militaristisches Säbelrasseln kritisiert (29). Vor diesem Hintergrund ist das Engagement der Friedensbewegung gegen Waffenexporte erst richtig zu verstehen, das ein Engagement für Deutschland ist und keine noch so naive Verweigerung, an der negativen Vergesellschaftung unter Staat und Kapital zu partizipieren.

Denn Deutschlands Rolle als Waffenexporteur muss zusammengedacht werden mit seiner generellen Rolle auf dem Weltmarkt. So war Deutschlands Anteil am weltweiten Waffenexport von 2012-2016 laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI zwar der fünftgrößte mit 5,6% hinter den USA (33%), Russland (23%), China (6,9%) und Frankreich (6,0%) (30). Im Vergleich zu Deutschlands Anteil am Welthandel ist seine Rolle als Waffenexporteur aber relativ gering: Hier war Deutschland 2015 der Staat mit den drittmeisten Exporten (8,1%) und lag – anders als beim Waffenexport – nur knapp hinter den USA (9,1%) und China (13,8%) und deutlich vor dem viertstärksten Exporteur, Japan (3,8%) (31). Diese Diskrepanz wird noch deutlicher, wenn man die Außenhandelsüberschüsse beziehungsweise -defizite miteinander vergleicht.

Somit profitiert Deutschland gerade im Verhältnis zu seinen Konkurrenten stärker davon, wenn international Rüstungsausgaben verringert werden und das Kapital in anderen Bereichen investiert wird. Diejenigen Industriezweige, die für den hohen deutschen Export maßgeblich verantwortlich sind, sind zudem häufig erst in der Endproduktion von der militärischen Rüstungsindustrie zu unterscheiden. So ist es beispielsweise für den größten Teil der Zulieferbetriebe egal, ob ihre Kugellager oder Klimaanlagen in Autos oder Panzer eingebaut werden, ähnliches gilt für Stahl- und Chemieindustrie. All diese Sparten, denen Deutschland die herausragende Position auf dem Weltmarkt verdankt, sind zugleich extrem von diesem abhängig – lassen sich ihre Produkte mal nicht auf ihm verkaufen, wird der Staat als Konsument einspringen. Ob diese staatliche Regulierung der Überproduktion dann in Form von Abwrackprämie oder Aufrüstung erfolgt, wird abhängig sein von der historischen Konstellation, technisch ist beides recht einfach möglich. Deutschlands Rüstungsfähigkeit ist also auch dann sichergestellt, wenn andere Wirtschaftszweige als die Rüstungsindustrie im engeren Sinne gefördert werden. Zugleich setzt Deutschland aber auch darauf, Geschäfte zu machen, wenn andere mit dem Einsatz von Waffengewalt neue Märkte erschließen. Als zurückhaltender Pazifist konnte Deutschland beispielsweise schon ab 2004 auch gegen den Willen der USA große Aufträge beim Wiederaufbau des Iraks an Land ziehen (32).

Deutsche Politik ist Gegen-Politik: Politik mit anti-politischer Rhetorik. Als solche der Pädagogik verbunden, kennt sie keine Konkurrenten am Weltmarkt oder Gegner in Interessenskonflikten, sie kennt nur uneinsichtige Feinde. Nicht ohne Grund sind es in der Regel die USA, gegen die man die Durchsetzung der eigenen Interessen im Dienste der guten Sache legitimiert. Nicht ohne Grund ist die deutsche Linke von den Linkspopulisten der Welt so begeistert, die ebenfalls den Mythos und den Feind an die Stelle des gemeinsamen Interesses setzen. Und sollte diese deutsche Feindbestimmung ihr Objekt tatsächlich einmal zum Abschuss freigeben, so hat die deutsche Linke ihren, wenn auch kümmerlichen Beitrag dazu geleistet: Durch die Forderung, Waffenexporte zu stoppen, wird der deutsche Souverän zumindest gut gerüstet sein.

Anmerkungen:

(1) https://www.facebook.com/monitor.wdr/posts/972407599464847.

(2) http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/konjunktur/zuwanderung-oekonomen-sehen-ausgaben-fuer-fluechtlinge-als-konjunkturprogramm-14597339.html.

(3) http://www.fluchtgrund.de/2016/07/auf-der-flucht-vor-deutschen-waffen.

(4) https://www.neues-deutschland.de/artikel/1000010.prozent-der-bundesbuerger-gegen-waffenexporte.html.

(5) http://www.bild.de/politik/inland/margot-kaessmann/was-wuerde-jesus-zu-waffen-deals-sagen-52225344.bild.html.

(6) http://www.sz-online.de/nachrichten/bund-genehmigt-weniger-ruestungsexporte-3705139.html.

(7) Siehe z.B. den Kommentar zu den vorläufigen Zahlen zum Waffenexport 2016 unter http://www.waffenexporte.org/wp-content/uploads/2016/10/Auswertung-R%C3%BCstungsexporte-2016.-Vorl%C3%A4ufige-Zahlen-des-BMWi.pdf.

(8) http://www.aufschrei-waffenhandel.de/Forderungen-Ziele.65.0.html.

(9) Ebd.

(10) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/martin-schulz-plaediert-fuer-eine-neue-friedenspolitik-gastbeitrag-a-1149149.html.

(11) http://www.pnn.de/pm/1187888.

(12) Vgl. bspw. die Kampagnen der Friedenskooperative: https://www.friedenskooperative.de/kampagne.

(13) http://www.aufschrei-waffenhandel.de/Goldene-Nasen.840.0.html

(14) Adorno, Theodor W./Benjamin, Walter: Briefwechsel. 1928 – 1940, Frankfurt am Main 1994, S. 385 f.

(15) So schreibt Adorno kurz nach dem von Benjamin im Brief zitierten Satz, den reinen Gebrauchswert zumindest als Illusion bestimmend: „Setzt die Ware allemal sich aus Tauschwert und Gebrauchswert zusammen, so wird der reine Gebrauchswert, dessen Illusion in der durchkapitalisierten Gesellschaft die Kulturgüter bewahren müssen, durch den reinen Tauschwert ersetzt, der gerade als Tauschwert die Funktion des Gebrauchswertes trügend übernimmt.“ Vgl. Adorno, Theodor W.: Über den Fetischcharakter in der Musik, in Ders.: Gesammelte Schriften. Band 14, Frankfurt am Main 2003, S. 26.

(16) Scheit, Gerhard: Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand, Freiburg 2001, S. 32 f.

(17) Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker in Zeiten des Hochkapitalismus, in: Ders.: Ausgewählte Werke, Berlin 2015, S. 494.

(18) Ebd.

(19) Ebd., S. 494.

(20) Video: „Silly – Vaterland – Das Musikvideo“ (https://www.youtube.com/watch?v=stIHsuuAVms).

(21) Video: „Waffenexporte stoppen!“ (https://www.youtube.com/watch?v=CJXoqhyvDN0).

(22) http://www.aufschrei-waffenhandel.de/Waffenexporte-stoppen.366.0.html.

(23) https://www.die-linke.de/partei/zusammenschluesse/kommunistische-plattform-der-partei-die-linke/mitteilungen-der-kommunistischen-plattform/detail/artikel/deutsche-waffenexporte.

(24) Vgl. „Rede des Reichsführers SS bei der Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943“, (online unter http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0008_pos&object=pdf&st=REDE%20DES%20REICHSF%C3%BCHRERS%20SS&l=de). Die Nazis, die ab 1934 (gemessen am Anteil an der Gesamtproduktion) das größte Aufrüstungsprogramm initiierten, das es jemals in Friedenszeiten gab, haben sich von Anfang an und bis zuletzt gegen eine private Bereicherung an der Aufrüstung gewandt. Bereits im 25-Punkte Programm der NSDAP von 1920 hieß es unter Punkt 12 entsprechend: „Im Hinblick auf die ungeheuren Opfer an Gut und Blut, die jeder Krieg vom Volke fordert, muß die persönliche Bereicherung durch den Krieg als Verbrechen am Volke bezeichnet werden. Wir fordern daher restlose Einziehung aller Kriegsgewinne“ (Herv. i.O., http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html).

(25) Vgl. SIPRI-Yearbook Summary 2016, online unter https://www.sipri.org/sites/default/files/YB16-Summary-ENG.pdf.

(26) Scheit, Gerhard: Kritik des politischen Engagements, Freiburg 2016, S.

(27) Vgl. https://www.freitag.de/autoren/nick-reimer/deutsche-doppelmoral sowie https://www.welt.de/politik/ausland/article164014068/USA-kritisieren-Deutschland-fuer-miesen-Klimaschutz.html.

(28) So eine Berechnung des Stockholmer Instituts SIPRI, das freilich zu Recht betont, dass eine Reduzierung der Ausgaben der USA, die gerade 3,3% des BIP für Rüstung ausgeben, eher unrealistisch ist. Ein Umstand, auf den sich Deutschland freilich nicht berufen kann. Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/militaerausgaben-die-maer-von-gleichen-militaerausgaben-1.3474484.

(29) Vgl. http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-05/nato-donald-trump-verteidigungsausgaben-trittbrettfahrer/komplettansicht.

(30) Vgl. https://www.sipri.org/research/armament-and-disarmament/arms-transfers-and-military-spending/international-arms-transfers.

(31) Vgl. die Zahlen der WTO in der Übersicht bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Welthandel/Tabellen_und_Grafiken#cite_note-:1-6.

(32) Vgl. Kiechle, Brigitte: Das Kriegsunternehmen Irak, Stuttgart 2006.

An dieser Stelle werden demnächst in loser Folge ein paar Beiträge von Pólemos-Redakteuren zur aktuellen Corona-Krise, ihren Folgen und den ideologischen Reaktionen darauf erscheinen.  

 

It’s the Pandemic, stupid!

Fetisch und Krisenbewusstsein in Zeiten der Pandemie

Von Daniel Poensgen

Die Mutmaßungen über den Ursprung der Covid-19-Pandemie sind keine, die lediglich eine geopolitische Dimension im Sinne einer Schuldzuweisung unter den Staaten hätte: An der Frage, ob das Virus entweder in einem Labor oder auf einem Wet-Market in der chinesischen Stadt Wuhan von einer Fledermaus auf einen Menschen übergegangen sei, zeigt sich bereits, dass das Verhältnis von Mensch und Natur der Schlüssel zum Verständnis des Krisenbewusstseins in Zeiten der Pandemie ist. In Anbetracht der Existenz zahlreicher Verschwörungstheorien, die vermuten, das Virus sei – wie sollte es anders sein – in israelischen Laboren gezüchtet und gezielt auf Menschen übertragen worden, liegt die Vermutung nahe, dass die Attraktivität dieses Wahns im verbitterten Versuch der Subjekte begründet liegt, die Menschen aus der Natur hinauszudefinieren und als rein soziale Wesen zu sehen. Wenn sich dann doch mal das Natürliche bemerkbar macht in Form von Abertausenden Toten und Kranken weltweit, muss ein finsterer Plan dahinter stecken. Doch nicht nur die Entstehung des neuartigen Virus, auch der Umgang der Staaten mit der Pandemie wird mittlerweile diskutiert, als handle es sich beim Corona-Virus um ein rein soziales, bei der Angst vor der Erkrankung um ein vor allem sozialpsychologisches Problem.

Dabei sind die Auswirkungen der Krise, welche die Pandemie bereits mit sich bringt, noch gar nicht abzusehen, täglich werden neue Strategien zur Eindämmung diskutiert und Schreckensmeldungen über Todeszahlen und Neuinfizierungen, aber auch über die sich einstellenden ökonomischen und sozialen Probleme verkündet. In diesen Tagen eine treffende Kritik am Geschehen zu formulieren, die sich den politökonomischen Entwicklungen und dem Erleben der Individuen stellen muss, scheint in einer solch dynamischen Situation unmöglich. Und doch ginge es im Sinne einer kritischen Theorie von Gesellschaft darum, sich den eigenen Erfahrungen und Beobachtungen nicht zu verschließen, sondern zu prüfen, inwiefern sich gesellschaftliche Totalität immer aufs neue durch ihre einzelnen Momente hindurch entfaltet (1). Dies führt, um mit Adorno auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, bei der Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft zu der Einsicht „wie sehr Gesellschaft auch in dem steckt, was scheinbar seinem eigenen Inhalt nach, eben als Natur, mit Gesellschaft gar nichts zu tun hat“ (2).

Denn es ist unbestreitbar, dass das Auftreten des für Menschen neuartigen Virus‘ vom Beginn der Krise über die Ausbreitung der Infizierungen bis zur hoffentlich baldigen Eindämmung der Pandemie gar nicht vom gesellschaftlichen Umgang mit ihm zu trennen ist. Natur lässt sich nur negativ, also in Abgrenzung zum Gesellschaftlichen, bestimmen. Kritischer Theorie geht es bekanntlich darum, Herrschaft als Herrschaft von Menschen über den Menschen, aber auch über die äußere und innere Natur der Menschen zu denken – nur wenn Revolution und Kritik im „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (3) erfolgen, könnte überhaupt verhindert werden, dass sich der Naturzustand inmitten einer Gesellschaft, die als unabänderlich und damit als zweite Natur erscheint, zu verewigen droht (4).

Betrachtet man nun in diesem Sinne die aktuelle Debatte um die staatlichen Maßnahmen gegen die Krise, lassen sich ideale Typen des Krisenbewusstseins in Zeiten der Pandemie erkennen, denen allen gemein ist, dass sie das Verhältnis von Natur und gesellschaftlicher zweiter Natur nicht reflektieren: Den Staatsbürgern erscheinen Natur und zweite Natur entweder gleichermaßen natürlich oder gesellschaftlich. Aus den Typen des Krisenbewusstseins und ihrem Verhältnis zueinander ergibt sich aber die politische Dynamik, die den weiteren Umgang mit Pandemie und Krise bestimmen wird.

Da gibt es zum einen den Typus der mobilisierten Staatsbürger_innen, vollends bereit, das Werk des Souveräns selbst in die Tat umzusetzen. Ihm erscheinen das Virus und die Pandemie, die Ökonomie und der Staat als gleichermaßen natürlich – und der Kampf gegen Covid-19 als einer, der eben geführt und gewonnen werden muss. Der mobilisierte Staatsbürger kennt daher keine Opposition mehr, schimpft auf die Bürokratie und den Föderalismus, die in der ‚Stunde der Exekutive‘ die notwendigen Maßnahmen verzögern würden. Während er allabendlich um neun passiv-aggressiv vom Balkon herunter Supermarkt- und Krankenhauspersonal beklatscht, hasst er jene Eltern, die mit ihren Kindern unbelehrbar die zwischenzeitlich gesperrten Spielplätze benutzen. Er ist Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung in Zeiten der Krise – eine Mobilisierung, die im Gegensatz zur autoritären Durchsetzung von Verboten als der gängige Modus der Umsetzung der Maßnahmen zum Infektionsschutz bezeichnet werden muss. So verkündete Merkel in ihrer ersten großen Regierungsansprache zur Pandemie am 19. März eben nicht wie von vielen befürchtet eine Ausgangssperre, sondern rief den Einzelnen als Teil einer Schicksals- und Solidargemeinschaft wie im Zweiten Weltkrieg zum Zuhause bleiben und Hände waschen, aber eben doch: zum selbstlosen Engagement für das große Ganze auf (5). Diese Anrufung der Volksgemeinschaft ist nicht zu haben ohne die gleichzeitige Bestimmung eines Feindes: Was im Innern die erwähnten Eltern oder mögliche Besucher von Corona-Partys sind, ist im Äußeren Donald Trump, der sich doch tatsächlich erdreistet, einem Unternehmen aus Deutschland Impfstoffe abkaufen zu wollen. Zuweilen wird die Corona-Volksgemeinschaft von den Mobilisierten durchaus gewaltvoll ausagiert, wenn beispielsweise bei Autos mit fremden Kennzeichen die Reifen zerstochen und wegen 3er-Grüppchen im Park die Polizei gerufen wird – das alles, nachdem zum Beispiel die Landesregierung von Baden-Württemberg die Bürger dazu aufgerufen hatte, Verstöße gegen die Corona-Maßnahmen zu melden: „Die Polizei kann nicht alles entdecken!“(6) Die hier beschriebene Mobilisierung zur Verantwortungsübernahme treibt auch jenseits der Gewalt skurrile Blüten, wenn z.B. in einer Call-In-Show zum Verbraucherschutz im Deutschlandfunk dem Anrufer geraten wird, er solle doch auf seine Ansprüche gegen ein Reiseunternehmen verzichten, da dieses ja jetzt in einer ökonomischen Notlage stecke. Nur wenn alle mitmachen, so das Argument der Mobilisierten, ist die Pandemie eindämm- und die Wirtschaftskrise vermeidbar.

Dem zweiten Typus des pandemischen Krisenbewusstseins, den Souveränisten, erscheinen Natur und 2. Natur hingegen gleichermaßen als gesellschaftlich. Die in antideutscher Kritik vielbeschriebene „Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand“ feiert hier fröhlich Urständ. Das gewaltvolle Potential des Souveräns, mit dem man sich ebenso identifiziert wie die beschriebenen mobilisierten Staatsbürger_innen, soll endlich zum Einsatz kommen. Dass dabei parlamentarische Vermittlung, das Zögern und Zaudern angesichts der „offenen Situation“ (Angela Merkel) als Schwäche ausgelegt wird, zeigt sich am deutlichsten in der extremen Rechten. Auf dem Blog der Zeitschrift Sezession wird die Krise begrüßt, wenn man auch an ihren realen Hintergrund jenseits des Üblen Werks der „Globalisten“ nicht glaubt: „Die Regierenden beweisen Stärke, indem sie das tun, was sie über lange Zeit kaum oder eben nur sehr fragwürdig verstanden: Entscheidungen treffen. In dem Sinne: Auf nun zur letzten heiligen Schlacht.“(7) Ausgangssperren und Versorgungsengpässe werden ersehnt, um endlich mal die Erfahrung machen zu können, „welcher Wert einem Sack Kartoffeln eigentlich zukommt“(8): Die Covid-19-Pandemie als Anlass für den heiligen Kartoffelkrieg.

Hiervon lässt sich zwar einerseits der Krisenbewusstseinstypus des Technokraten unterscheiden, weil er Gesellschaft und Natur gleichermaßen von Naturgesetzen beherrscht sieht. Ist diese Geisteshaltung in der Fridays for Future-Bewegung auch jenseits der Pandemie prominent präsent, wird hier das Bild von Natur einfach auf die Gesellschaft übertragen. Andererseits geht es auch dem Technokraten um die Einsetzung eines personalisierten Souveräns – den Experten. Sie sollen die Gesellschaft nach den Regeln der Naturwissenschaft gestalten. Der antipluralistische Hype um Wissenschaftler, denen man die reine Entscheidungsgewalt übertragen sollte, trifft heute die Virologen, gestern die Klimaforscher und morgen schon die Wirtschaftswissenschaftler, wenn es gilt, soziale Härten und allgemeinen Verzicht zum Erhalt des Bio- und Wirtschaftssystems zu verkünden.

In der politischen Linken findet sich hingegen ein vierter Typ des Krisenbewusstseins: Er denkt, dass wir längst im Ausnahmezustand, im autoritären Staat leben. Die Covid-19-Pandemie ist ihm, ähnlich wie dem Souveränisten, eine rein gesellschaftliche Krise. Was den Mobilisierten die Kanzlerin und den Freunden der Dezision die extreme Rechte, ist dem linken Kritiker des allgegenwärtigen Ausnahmezustands der Philosoph Giorgio Agamben. Der hatte schon am 26. Februar geschrieben: „Es ist fast so als ob, nachdem sich der Terrorismus als Grund für Ausnahme-Maßnahmen erschöpft hatte, die Erfindung einer Epidemie die idealen Voraussetzungen bot, diese Maßnahmen über jede Begrenzung hinaus auszuweiten.“(9) Dass man hinterher immer schlauer ist trifft leider nicht auf Agamben zu: Mitte März wiederholte er seine Thesen auch in Anbetracht völlig überforderter Intensivstationen in Norditalien. Denen, die sich derzeit auf Agamben stürzen um etwas über den Ausnahmezustand zu erfahren, wäre zu entgegnen: Sinnvoll getroffen ist mit dem Begriff ein Zustand, in dem Rechte nicht gelten, die gesamte Rechtsordnung suspendiert ist und Gewalt ausgeübt wird – das alles aber mit dem Ziel, die Gesetze wieder in Kraft setzen zu können. Dabei sind Recht und Souveränität auch jenseits des Ausnahmezustandes durcheinander vermittelt, bedingen einander und gehen doch nicht in einander auf. Für Agamben hingegen ist der Ausnahmezustand ein Raum, in dem der staatliche Souverän seine „Bio-Macht“ über das „nackte Leben“ ausübt – egal, ob es sich bei diesem Raum um Auschwitz, Guantanamo oder die Intensivstation eines Krankenhauses handelt. Doch nicht jeder Rechtsverstoß, nicht jede nicht-rechtliche Maßnahme oder gar jeder Zugriff staatlicher Institutionen auf den Leib der Staatsbürger ist sinnvoll als Ausnahmezustand zu beschreiben. Die Ausgangssperre ist eine Rechtsverordnung oder eine Allgemeinverfügung, also ein Verwaltungsakt. Dieser ist rechtlich anfechtbar – aus der Gesetzesgrundlage, dem Infektionsschutzgesetz, ergibt sich jedoch, dass diese Anfechtung keine aufschiebende Wirkung hätte (10). Zahlreiche Gerichte haben bereits eine Vielzahl der Maßnahmen geprüft, viele bestätigt und manche wieder aufgehoben – hieraus einen Ausnahmezustand begrifflich irgendwie belastbar zu konstruieren, dazu braucht es den Wunsch nach einer letzten Schlacht, den die linken Kritiker mit den rechten Souveränisten teilen.

Schließlich gibt es noch den Typus der konformistischen Rebellen: Er ignoriert die Gefahr der Pandemie schlichtweg und beharrt so trotzig auf seinen Gewohnheiten wie diese den Erwartungen der kapitalistischen Gesellschaft entsprechen. Wie der mobilisierte Staatsbürger fasst er erste und zweite Natur als rein gesellschaftlich auf. Ob er wirklich zum Gesetzes- und Verordnungsverstoß bereit wäre, sobald es relevante staatliche Maßnahmen gibt, darf bezweifelt werden. Durchaus den gesellschaftlichen Verhältnissen adäquat ist er daran gewöhnt, ohnehin nur das scheinbar eigene Interesse, das Partikulare zu verfolgen. Er hält sich für unverwundbar und rationalisiert das mit dem Verweis auf das angeblich so überlegene deutsche Gesundheitssystem. Leo Fischer hat dies polemisch durchaus treffend als „Herrenmenschendenken“ beschrieben(11). Empathie haben sich diese konformistischen Rebellen abgewöhnt, und so wird der potentiell massenhafte Tod der Risikogruppen wieder zynisch zum gesellschaftlichen Normalfall erklärt. Sich völlig in den Souverän einfühlend, rechnet er sich aus, dass das Staatsvolk als Volk von Corona in seinem Bestand nicht gefährdet, staatliche Maßnahmen zum Schutz also „hysterischer Wahn“ sind, dem „traditionellen Souverän“ nicht würdig (12). Den konformistischen Rebellen ist die nicht zuletzt in Anbetracht des vielfach prekären Lebens angemessene Furcht vor dem qualvollen Tod unter ihrer souveränen Würde.

Nun lassen sich diese Typen weder klar voneinander trennen noch einzelne Individuen eindeutig einem Typus zuordnen. Sie sind ideologisch in dem Sinne, dass in ihnen Wahrheit und Lüge, adäquates und falsches Bewusstsein verschränkt sind. Kritik jedoch, die das Krisenbewusstsein in Zeiten der Pandemie nicht zugleich als Mobilisierung, als Sehnsucht nach und Wahn vom allgegenwärtigen Ausnahmezustand, als autoritäre Anbetung der Technokraten und als konformistische Rebellion fasst, kann die gegenwärtigen Dynamiken nicht treffen. Den Formen des Krisenbewusstseins in Zeiten der Pandemie ist jedoch gemeinsam, dass sie das Verhältnis von erster und zweiter Natur nicht zu denken im Stande sind. Wenn gesellschaftliche Verhältnisse als Naturverhältnisse erscheinen und Naturverhältnisse als gesellschaftliche Verhältnisse, dann ist allen bewusst, dass die gewählten Mittel zur Eindämmung einer Pandemie dieselben sind, die auch bei der nächsten polit-ökonomischen Krise genutzt werden können. Während die einen also so tun, als könnte man mit der Corona-Pandemie verfahren wie mit einer Überakkumulationskrise, werden die anderen nach Abklingen der Pandemie dieselbe Rigorosität einfordern, um auch die polit-ökonomische Krise zu bändigen.

Der Umgang mit dem Corona-Virus ruft den Staatsbürgern schmerzhaft in Erinnerung, was sie sonst recht erfolgreich verdrängen: das gewaltvolle Potential des Souveräns. Diese scheinbare Wiederentdeckung der Möglichkeiten staatlicher Politik ist umso ernster, als das Ausmaß der globalen Krise, die selbst bei einer zeitnahen Eindämmung der Pandemie auf alle zukommt, noch kaum abzuschätzen ist. Und es bleibt fraglich, ob die Deutschen nachdem sie dem Reiseunternehmen Geld geschenkt und den älteren Nachbarn den Einkauf heimgetragen haben, sich auch noch in Anbetracht derer, die Pandemie und Krise besonders treffen, solidarisch zeigen werden: Obdachlose, Geflüchtete, Opfer von verstärkt aufkommender z.B. häuslicher Gewalt. Es bleibt das Rätsel der radikalen Linken, warum sie zwar einerseits derzeitige Maßnahmen zum Ausnahmezustand eines autoritären Staates dämonisiert, andererseits aus der sich anbahnenden Situation aus kollabierenden Staaten, Massenarbeitslosigkeit und womöglich zahlreichen Todesopfern Hoffnung für emanzipatorische Kämpfe schöpft (13). Wahrscheinlicher ist, dass in Anbetracht einer von Armut und Arbeitslosigkeit zunehmenden Verstaatlichung der Subjekte (14), der Reorganisation von Lieferketten in geopolitischen Großräumen und der damit verbundenen möglichen Abnahme von ökonomischen Interdependenzen auf dem Weltmarkt tatsächlich autoritäre, rechtsextreme und islamistische Regime sowie Rackets aller Art auch jenseits von Staatlichkeit einen Aufschwung erfahren werden: Schon jetzt hat eben nicht nur die Stunde der Exekutive, sondern längst auch die der Bande geschlagen, wenn sich beispielsweise mexikanische Drogenkartelle oder die Camorra durch Hilfslieferungen an die Bevölkerung für eine neue Verhandlungsrunde mit den bankrotten Staaten wappnen und im brachliegenden informellen Sektor die Laufburschen von Morgen rekrutieren.

Und auch in antideutschen Kreisen lässt man sich gerne von der neuen Staatseuphorie anstecken und fasst verloren geglaubtes Vertrauen in den Souverän: So pausiere, meint die Gruppe Distanz, zumindest vorübergehend der „Kampf gegen die Alten und Schwachen“: „In der immer wieder gehörten Rhetorik, dass doch die Gesundheit aller wichtiger sei als die Ökonomie, scheint immerhin das von Adorno Formulierte auf, dass sich die Humanität einer Gesellschaft am Umgang mit ihren Schwächsten zeigt.“(15) Die Gruppe En Arret hält fest, „echte Solidarität“ würde bedeuten, „nicht vom Markt, sondern vom Staat Hilfe zu verlangen.“(16) Die Redaktion Bahamas geht „vorläufig“ davon aus, „dass Staat und Politik wirklich Leben retten wollen“(17). Der Staat nimmt in seinem Streben, sich selbst zu erhalten und die Akkumulation des Kapitals zu organisieren, durchaus den Schutz des Lebens der Einzelnen als Staatsbürger in Kauf. Doch in erster Linie wollen „Staat und Politik“ sich selbst, und das heißt auch ihre Staatsbürger als Staatsvolk, retten – das Leben der Einzelnen und insbesondere der Nicht-Staatsbürger wird hingegen wissentlich gefährdet, wenn beispielsweise die Aufnahme gemeinsamer Kredite auf europäischer Ebene verweigert wird, deutsche Intensivstationsbetten weitgehend ungenutzt bleiben und Ernte- und Schlachthelfer auf engstem Raum zusammengepfercht werden. Unter „echter Solidarität“ versteht der Staat, alles zu versuchen um auf dem Weltmarkt in der Konkurrenz um Schutzmasken und Beatmungsgeräte andere Staaten auszustechen, auch wenn das zwischenzeitlich knappe Material anderswo dringender gebraucht würde. Und gerade den Alten und Schwachen wird die Humanität der Gesellschaft derzeit besonders vor Augen geführt, wenn man von Schäuble bis Palmer und Habeck, vom Freitag bis zur Zeit betont, dass nicht das Leben der Einzelnen, sondern ihre Würde als Deutsche das Höchste Schutzgut des Staates ist (18).

 

Anmerkungen:

(1) Adorno, Theodor W., Zur Logik der Sozialwissenschaften. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 8, Frankfurt am Main 1997, S. 549.

(2) Adorno, Theodor W., Einleitung in die Soziologie. In: Theodor W. Adorno: Nachgelassene Schriften, Band 15, Frankfurt am Main 1993, S. 33.

(3) Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 2, Frankfurt am Main 1997, S. 58.

(4) Vgl. Scheit, Gerhard: Rettung der Natur und Verdrängung des Souveräns: Umweltschutz als antikapitalistischer Wahn. In: Phase 2/27, 2008.

(5) In der Rede hieß es wörtlich: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“ Vgl. https://www.nwzonline.de/politik/berlin-corona-rede-im-wortlaut-lesen-sie-hier-merkels-ansprache-an-die-nation_a_50,7,2821516659.html (25.3.2020).

(6) https://www.fr.de/panorama/blockwart-boom-13641319.html (02.05.2020).

(7) Bosselmann, Heino: „Corona (3): Eine Offenbarung.“ Online unter: https://sezession.de/62297/coronavirus-3-eine-offenbarung (25.3.2020).

(8) Ebd.

(9) Übersetzung durch den Autor. Vgl. die gesamte Debatte: http://www.journal-psychoanalysis.eu/coronavirus-and-philosophers/ (25.3.2020). Im Zuge der Debatte wurde auch deutlich, dass es Agamben um seine Kritik der Bio-Politik wirklich ernst ist: Wie sein „alter Freund“ Jean-Luc Nancy im Zuge der Debatte berichtet, habe ihm Agamben vor beinahe 30 Jahren geraten, nicht auf die Ärzte zu hören und sich keiner Herztransplantation zu unterziehen.

(10) Ein Beispiel für den sorglosen Umgang mit dem Begriff des Ausnahmezustandes liefern Neumann/Pichl: Sie sehen im Ausnahmezustand auch die Möglichkeit staatlicher Politik, den Neoliberalismus zu beenden, vgl. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-welt-nach-corona-wird-jetzt-ausgehandelt (25.3.2020).

(11) https://www.facebook.com/leofischeresq/posts/3293915163956291?__cft__[0]=AZXbq6iqJVPD7QdQhrDLUHpL9IKzu0rtj8EcwLuotjskPgvcfkaaiAZjTWplLOMjPCl_5ZY1YxKQOrvw7m4Nt6IpEgXGoIhlkwJKNnDthjcns-U-UoOHPq6OloR0RlXkw0g&__tn__=%2CO%2CP-R (25.3.2020)

(12) http://www.magazinredaktion.tk/corona4.php (03.05.2020).

(13) So beispielsweise im Beitrag von Neumann/Pichl.

(14) Dominik Intelmann hat diesen als ‚Verstaatlichung‘ treffend zu bezeichnenden Prozess, in dem Menschen zu wohlhabenden Transferempfänger_innen gemacht werden, für das Ende der DDR beschrieben. Vgl. ein Interview bei Radio Corax: http://audioarchiv.blogsport.de/2019/11/28/lost-in-transformation/ (25.3.2020). Der Prozess hat Auswirkungen auf die Verbreitung rechtsextremer und autoritärer Einstellungen in Ostdeutschland bis heute, was auch – bei aller berechtigten Kritik an der Untersuchung – Manow für die politische Ökonomie des Populismus gezeigt hat: Manow, Philip: Die politische Ökonomie des Populismus. Frankfurt am Main 2018.

(15) https://www.facebook.com/324364721702128/photos/a.331237844348149/702672780537985/?type=3&__tn__=-R (03.05.2020).

(16) https://enarret.wordpress.com/2020/04/15/coronapreneurs/?fbclid=IwAR0eT58E4q53zTCSu-2H8zG9245A3shQGxt4rXdMfaIstqBVB9PNTRbVhiQ (03.05.2020).

(17) http://redaktion-bahamas.org/editorial/2020/nr-84/ (03.05.2020).

(18) Mit Agnoli hat die ISF bereits darauf hingewiesen: „So lautet die Wahrheit von Artikel 1 (1) vielmehr: Die Würde des Staates ist unantastbar, die des Souveräns erst recht.“, https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/isf-staat-grundgesetz/ (05.05.2020)

Soeben ist Heft # 09 der Zeitschrift Pólemos erschienen:

Inhalt:

  • Daniel Poensgen: Sterben für die Staatsräson. AfD und Israelsolidarität im Bundestag
  • Leo Elser: Substantitalisierung des Staates. Über die politische Rechte
  • Joachim Bruhn: Adolf Hitler, der unmittelbar allgemeien Deutsche. Über die negative Dialektik der Souveränität
  • Julika L.: What did you learn in school today? Über die Pathologisierung von Schülerverhalten
  • Leo Elser: Vernichtungszahnrädchen
  • Ilse Bindseil: Smogalarm

4€, 40 Seiten. Ab Heft # 09 ist die Pólemos auch über den Buchhandel bestellbar:  ISBN: 978-3-86259-804-5.

Wir empfehlen die Bestellung über den Ca-ira-Verlag.

Kurz vor Erscheinen des neuen Hefts reichen wir noch einen Text aus Pólemos #08 nach:

 

Eine Frage der Herkunft

Anmerkungen zum Zusammenhang von Ernährung, Regionalismus und Ökonomie

Von Julika L.

Dieser Körper gab nichts her. Alles verdaute er. Alles verleibte er sich ein. Ein Durchfall, ein Erbrechen hätten Wunder wirken können. Doch keine Rede davon: nichts rückte er heraus. Es gab Tage, da wollte er in seinem Geiz, in seiner Gier nicht einmal den Stuhlgang hergeben, sondern nur noch die Gase.“ (Gisela Elsner, Der Nachwuchs, 1968)

Das, was in Elsners Roman nachwächst, in strenger Beobachtung seines Wuchses durch die Ernährer, wie der Erzähler seine Eltern nennt, existiert in stetem Selbstbezug. Aber es ist nichts an diesem Selbst, außer seinem Körper, an dem der Erzähler ständig zieht, rupft, den er wiegt, bemalt, reibt, an dem er porkelt. Ständig wurschtelnd an etwas, das in sich eingeschlossen nichts hergibt, nichts hergeben will. Ein Produkt der 50er und 60er Jahre, in der die deutsche Gesellschaft im engsten Kreis der Familie die Früchte ihrer Zerstörungs- und Vernichtungspolitik in sich hineinfraß, in nicht enden wollender Angst, es könnte am Ende doch etwas eingefordert werden aus ihren Kriegs- und Mordgewinnen. Daher die Gier, das, was sich schuldhaft einverleibt wurde, nur nicht wieder herauszugeben. Es ist restlose Aneignung, die sich später im madenhaft-fetten Körper Kohls ebenso wiederspiegelte, wie in den anorektisch-mageren Körpern der RAF Aktivisten, die sich dieser Fütterung verweigerten. Und um Futter dreht es sich heute ständig, während es vor gut 50 Jahren ein Thema der Hausfrauen, ein wirklich häuslicher Bereich der Sättigung des Ehemannes und der Kinder gewesen ist, um die sich die Mutter gekümmert hat und kümmern musste. Sich dem Kochen zu entziehen galt deswegen von jeher als ein Ausweis von weiblicher Emanzipation, oft auch als kokette Geste, sich nicht gemein zu machen mit der biederen und beschränkten Hausfrau. Nun scheint sich, nachdem diese Aufgaben tatsächlich weniger selbstverständlich von Frauen besorgt werden, eine ganze Gesellschaft zu hausfräulichen Kümmerern zu entwickeln.

Die Ideologisierung des Essens zur Ernährung (1) zeugt von einer pars-pro-toto Konstellation zwischen Eltern und Kind, Konsument und Industrie, Bevölkerung und Staat. Zunächst geht dem, allgemein gesprochen, bewussten Konsum, die Vorstellung, bzw. der Wunsch voraus, man handle im Sinne aller anderen. Was sollen alle anderen tun? Sie sollen sich, so der moralische Imperativ, möglichst im Sinne einer umfassenden Schonung der Tiere, Ressourcen und Menschen ernähren, kleiden, bewegen. Die zur Verfügung stehenden Produkte bewegen sich dabei in engstem Raum, wie auch das politische Engagement, nach dem der bewusste Konsument trachtet, im engsten Rahmen seiner Reproduktion, seiner Hausfrauenseite, seiner Körperlichkeit verbleibt. Der Körper steht im Zentrum und die Frage, was er sich einverleiben darf und soll. Im Gegensatz zur Figur Kohls ist allzu viel Sitzfleisch heute allerdings ebenso verpönt wie allzu heftige Magerkeit. Als ästhetisch-ideologische Extreme identifiziert, sind sie inzwischen von gesunder Körperlichkeit abgelöst worden. Die kollektiv latent essgestörte Gesellschaft verachtet an diesen Extremen nicht, was den Kern einer Essstörung kennzeichnet: die permanente gedankliche und emotionale Fixierung aufs Essen unter absoluter Unterwerfung und Disziplinierung, die sie ja mit den pathologischen Fällen wenigstens tendenziell teilt, sondern dass letztere ihre Essstörung nicht restlos selbstbeherrscht betreiben würden. Entsprechend zielen landläufige Therapien häufig auf Kochkurse und die Verinnerlichung gesunder Ernährungsprinzipien. Das Ideal kraftstrotzender Gesundheit akzeptiert weder ‚Fette‘, noch ‚Magermodels‘, sondern propagiert stromlinienförmige Körper.

Gesundheit ist Leistungs- und Leidenspotential, was im Sport ernstfällig trainiert und beim Essen, nur freiwilligen Stopfgänsen vergleichbar, eingetrichtert werden muss. Folgerichtig orientieren sich die ästhetischen Vorbilder der Deutschen zurzeit an Soldaten und Müttern und ebenso erinnern die modernen Flecht- und Zopffrisuren mit ihrem weibischen Erntedankfestflair und die mackerhaften, martialischen Undercuts mit Seitenscheitel an die Volksgenossen aus den Filmen der „Nazischlampe“ (Broder) Riefenstahl. Die Deutschen seien ein „Volk, wo immer viel Neigung vorhanden bleibt, das Ideal des Weibes in der Kuh und das des Mannes im Schlagetot zu erblicken“, bemerkte Thomas Mann in den 20er Jahren sehr treffend.

Damit einhergehend wird wieder gegessen, was auf den Tisch kommt, wie die Käufer von Gemüsekisten-Abos sich gerne von den Jahreszeiten, ihrer Gesundheit und ihrem politischen Gewissen wie einst von ihren Eltern diktieren lassen, was wann zu essen sei. Bedürfnisse sind nie ein Argument für die Produktion gewesen. Dass sie als zahlungskräftige inzwischen nicht einmal mehr für die Konsumtion taugen, ist Wahnwitz.

Nicht als beschränkende Enge, sondern als Nähe wird aber die Wendung zu regionaler Landwirtschaft und Produktion bewertet. Dadurch seien unnötige Abgase (2) beim Transport zu vermeiden und die regionale Wirtschaft zu stärken. So einfach liegen die Dinge zwar nicht unbedingt, verbraucht ein importiertes argentinisches Rindersteak doch unter Umständen trotz Transport deutlich weniger CO2 als ein deutsches, bei dem aufgrund geringerer Weideflächen mehr Getreide zugefüttert werden muss. Zumal angesichts der Überproduktion von Fleisch ohnehin keine direkte Beziehung zwischen Fleischkonsum und der Menge geschlachteter und transportierter Tiere besteht.

Explizit politisch wird die ‚bewusste Ernährung‘ allerdings vor allem angesichts apokalyptischer Vorstellungen, die sich an geplante Freihandelsabkommen mit den USA oder an amerikanische Konzerne heften. Implizit aber richtet sich die regionale Ernährung stets gegen den Import von im Ausland produzierten Lebensmitteln. Davon abgesehen, dass Deutschland, ohne ein weiteres Mal die Annexion Südosteuropas zu betreiben, kaum genug landwirtschaftliche Flächen bietet, um seine Bevölkerung zu versorgen, wird der Import von Lebensmitteln vor allem deswegen betrieben, um das unterschiedliche Lohnniveau auszunutzen und die Lebensmittelkosten möglichst gering zu halten. Ohne die niedrigen Preise und die enorme staatliche Subvention unrentabler deutscher Landwirtschaftsbetriebe wäre allerdings die Niedriglohnpolitik des Exportweltmeisters nicht aufrechtzuerhalten. Während die Subventionspolitik wiederum ihren Beitrag zu der alles andere als umweltfreundlichen landwirtschaftlichen Überproduktion leistet, läuft die Abwehr von über den Weltmarkt bezogenen Lebensmitteln auf nichts anderes als Protektionismus hinaus. Ökonomisch betrachtet ist die Tendenz zur weltmarktunabhängigen Sicherstellung der Lebensmittelversorgung aber nichts anderes als Kriegswirtschaft in Friedenszeiten, die staatlich in Form von Agrarsubventionen, ansonsten aber in Eigeninitiative der Volksgenossen betrieben wird.

 

Von Bio zu Regio

„Deutsche, kauft deutsche Zitronen! / Und auf jedem Quadratkilometer Raum / träumt einer seinen völkischen Traum“ spottete Tucholsky 1932, als sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise die westlichen Industrienationen dem Protektionismus verschrieben (3). „Deutsche, kauft Deutsche Bananen!“ zitierte die Linke ihn noch vor wenigen Jahren und fühlte sich damit dem rechten Pöbel überlegen. Dabei sind sie es gewesen, die politische Korrektheit im (immerhin internationalem) Kaffeekonsum und fleischfreie Ernährung als Kochtopfkonsens einforderten und politisch korrekte Ernährung mehrheitsfähig machten. Inzwischen entdecken die Deutschen offenbar wieder ihre Raubtiernatur – allerdings unter der Bedingung, dass das Tier möglichst in den gleichen heimischen Gefilden mit dem gleichen Gemüse gepäppelt wurde, wie man selbst. Eben Fleisch vom Fleische, das zeigt nicht zuletzt die massenhafte Empörung über den Veggie-Day der Grünen und die gestiegene Anzahl von Hobbyjägern, trotz des laut Statistiken allgemein sinkenden Fleischverzehrs der Deutschen.

Im Hinblick auf die steigende Nachfrage nach regionalen Produkten hat auch die Bio-Industrie mittlerweile ein folgenschweres Problem (4): ihr haftet der Geruch nach Kosmopolitismus an. Biotomaten können überall wachsen (sogar in Israel), denn Natur gibt es ja schließlich nicht nur in Deutschland. Hier zeigt sich, dass zunehmend ein Spalt zwischen Bio- und Regional- Überzeugung klafft. Windkraftwerke zum Beispiel nehmen zwar Rücksicht auf die Natur des Umlands (Flora und Fauna), aber nicht auf das Naturell der Bevölkerung (berechtigte Sorgen und Nöte). Da gelten eben andere „Regeln“. Umweltschutz ist in Deutschland gebürtiger Heimatschutz. Natur mag international sein, die „Kulturlandschaft“ kennt jedoch ihre Herkunft sehr genau. Und das hat seinen Grund im Ernstfall, der im Schrebergarten der friedlichen Selbstversorger nur geprobt wird. Schließlich dient der fruchtbare Deutsche Boden stets auch der Versorgung im Kriegsfall: landwirtschaftliche Autarkie und regionale Authentizität sind deshalb Begriffe, die Mord und Totschlag ausdünsten. In den dreißiger Jahren charakterisierte Lion Feuchtwanger die deutschen Bauern folgerichtig: „Aus Instinkt wurden sie Nationalisten, denn sie ahnten, daß nur die Rücksicht auf die Versorgung im Kriegsfall den deutschen Bauern hielt.“ Trotz der allgemeinen Urban-Gardening und Gartenarbeit generell anvisierenden Begeisterung ist allerdings der explizite politische Bezug auf diesen Ernstfall beim „bewusst konsumierenden“ Verbraucher aktuell nicht zu bemerken. Selbst die Reformhaus-Reklamezeitschrift Schrot und Korn trägt militärische Wehrhaftigkeit höchstens für wortwitzelnde Kritiker im Namen. Das Verhältnis zur Ernährung, wie Essen heute genannt wird, ist trotzdem geprägt von der politischen Situation Deutschlands. Die Bevölkerung mag für den fleischfreien Eintopfsonntag zu haben sein, wenn es darum geht, einen Krieg zu gewinnen – aber sie verbittet sie sich solche Aufopferung für jedes Blümelein am Wegesrand (Diese aktuelle, national-robuste Haltung ist sicher auch einer der Gründe für das derzeitige Umfragetief der Grünen).

 

Völkische Rindviecher

„Den Badenern sagt man ja nach, dass sie harmoniesüchtig sind, dass sie Widersprüche im Guten überwinden („badische Lösung“) und dass sie das Geben und Nehmen als weise Handlungen des guten Miteinanders verstanden haben. Außerdem sind sie lustvolle Genießer mit Sinn für Vielfalt. All das findet sich im badischen Rindfleisch.“ (Sonntagszeitung Freiburg, 02.04.17)

Wer seine völkische Herkunft noch mit regionalen Lebensmitteln aufzubessern sucht, als sei er noch nicht Deutsch genug, steht offenbar mit halbem Fuß im Kochtopf der eigenen Leute. Dabei könnte man glauben, dass die penetrante deutsche Vergemeinschaftung, die in Form von regionalem Gemüse, heimatlicher Folklore und volkstümelnder Propaganda seit etwa zehn Jahren in Deutschland verbreitet wird, doch eigentlich stets ins Feld geführt wird, um dem zu entgehen: dem Fressen und Gefressen werden. Aber Weizenfeld und Feld der Ehre, Landwirtschaft und Kriegswirtschaft liegen zu nahe beieinander, als dass man ernstlich von einer nationalen Entlastung in Sachen kapitalem Hauen und Stechen ausgehen könnte. Weil die Erträge deutscher Landwirtschaft auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig sind, fürchten besonders die Landwirte internationale Handelsabkommen wie TTIP, welche die nationalen Subventionen, die hierzulande in die Landwirtschaft gesteckt werden, als wettbewerbswidrig zurückweisen könnten. Umso mehr vertrauen die Bauern auf ihre nationale Sonderstellung, und die Deutschen, deren Versorgung hier ansteht, hoffen und bangen mit Ihnen. Schließlich wird Ackerland in Deutschland trotz der niedrigen Erträge immer teurer, wie Deutschland Radio Kultur beklagt: „Spätestens seit der Finanzkrise ist Bauernland heiß begehrt und darum teuer. Finanzkräftige Menschen und Investoren erhalten kaum noch Zinsen für ihr Geld, deshalb suchen sie, genauso wie viele Pensionsfonds, verzweifelt nach sicheren Anlagen. Boden ist eine solche sichere Anlage. [H. v. Verf.]“.

Im Vertrauen auf die Wehrhaftigkeit Deutschlands wird dessen Territorium entsprechend bestellt: ohne Profit ist der Boden immerhin für den ideellen Mehrwert fruchtbar zu machen, den die Bauern erbringen und die Bürger verteidigen sollen. Eine bäuerliche (versus industrielle) Landwirtschaft, in der die Landwirte selber anfassen – um wenigstens einen anständigen Ertrag erwirtschaften: Die Blüten des Elends technischen Fortschritts. Denn während die Agrarwissenschaft inzwischen an einer Bebauung des Bodens tüftelt, die beinahe ohne Bauern auskommt, erfreuen sich die patriotischen Konsumenten regionaler Produkte an der altehrwürdigen Sklavenarbeit ihrer Volksgenossen auf dem Feld und goutieren sie in Form von Familienurlaub, Ausflügen oder Führungen für Schulklassen auf dem Land. Ein reichhaltiges Agitationsprogramm, das sehr viele ökologische Landwirtschaftsbetriebe anbieten müssen, um sich vor der Pleite zu bewahren. Aber es wäre zu kurz gegriffen, nur die arbeitsamen Authentizitätstouristen anzugreifen. Die Kulturland eG, die jene „finanzkräftigen Menschen“ (Merke: Wohlmeinende Deutsche sind niemals profitgeile Investoren.) für ihre nachhaltigen Kreditsysteme (die Kulturland eG kauft genossenschaftlich Land, um es an ökologisch-landwirtschaftliche Betriebe zu verpachten) anwirbt, nennt in ihrer Präambel weitere Abgründe für die Förderung deutscher Kleinbauern: Die Nutzung von landwirtschaftlichem Grund und Boden darf nicht von den Regeln sich selbst vermehrender Geldströme bestimmt werden. Landwirtschaft soll vielmehr die Fruchtbarkeit des Bodens langfristig bewahren, pflanzliche Erzeugnisse in Verbindung mit größtmöglicher Biodiversität hervorbringen und Menschen und Tieren damit eine Lebensgrundlage schaffen. Sie pflegt und bewahrt Kulturlandschaften als Ort und Heimat für menschliche Gemeinschaften.“
Sich selbst vermehrende Geldströme? Wären die Verfasser des Selbstverständnisses der Kulturland eG nicht so bescheiden in ihren Formulierungen und zivilisiert in ihren Forderungen, würden sie die Dinge vielleicht bei dem Namen nennen, den die „menschliche Gemeinschaft“ der Deutschen, die sie doch vertreten, dem vermeintlich „mühelosen Einkommen“ (Hitler) traditionell beigelegt hat: der verdammte jüdische Wucher.

Dabei würden die Volksgenossen der Kulturland eG solche Worte natürlich ablehnen. Woher allerdings der zersetzende Wurm in ihrer fruchtbaren Erde konkret herrühren soll – es bleibt das Geheimnis der unnatürlich und unproduktiv kopulierenden Geldströme selbst. Die Programmatik der Landwirtschaftler belässt es lieber bei positiven Konnotationen: Es geht um heimatliche Fruchtbarkeit, nicht um die geldwerte Ödnis, um natürliche, langfristige Vermehrung, es geht um genug Raum fürs V…– für die Biodiversität. Wovor eigentlich soll dies alles bewahrt werden? Wie die gesamte Regio-Konsumkultur lebt die Propaganda der Kulturland eG von der zumeist völlig zutreffenden Beobachtung, dass sich marktwirtschaftliche Konkurrenz und Natur nicht gut vertragen – wobei gerade etwa die hochgelobte dichte Bewaldung in Deutschland ebenfalls ein Produkt der Forstwirtschaft der letzten zweihundert Jahre ist. Bei genauerer Betrachtung ist Natur weniger naturbelassen als die damit beworbenen Produkte. Natürlich behandelt jeder – unter Drohung seiner ökonomischen Existenz – sowohl seine eigene menschliche Natur wie die Welt, die nicht nahtlos integrierbar, kompensierbar und disziplinierbar, im Sinne der Natur: kultivierbar scheint, tendenziell feindlich. Es ist eben nicht nur so, wie inzwischen landläufig, dass Hunger kein Grund zur Produktion ist, sondern Hunger ist der Produktion ebenso ein Störfaktor, der den Betriebsablauf hemmt, und als störende, leibliche Regung bekämpft wird, wobei der Staat als gesamtgesellschaftlicher Nährer in die Bresche springt.

Abgesehen davon ist Natur auch jenseits ihrer ökonomischen Verwertbarkeit keineswegs Teil einer Kulturlandschaft, Heimat, oder dem politischen Pendant zur organischen Kulturlandschaft: der Volksgemeinschaft. Als kulturell bzw. kulturlandschaftlich zersetzend können auch Windräder, nicht ursprünglich heimische Tierarten – was übrigens als biologische Invasion bezeichnet wird – oder Neubauten in Kreuzberg gelten. Denn der Ausweg, die Lebensgrundlage die von der Ökowirtschaft geschützt werden soll, soll das Dilemma permanenter Bedrohung der Natur aushebeln, indem sie den Verzicht auf marktwirtschaftliche Konkurrenz fordert, damit einhergehende Lohn- und Preisfestsetzung sowie Umweltschutz auf tendenziell niedrigstem Niveau bekämpft und die Globalisierung dieses Vorgangs durch Regionalismus aussetzen will. Eine solche streng kontrollierte nationale Wirtschaft verlagert wirtschaftliche Konkurrenz auf die inneren Fragen ideologischer Zweckhaftigkeit: Wer und Was trägt wohl am meisten bei zum Erhalt der Lebensgrundlage und der Kulturlandschaft? Diese Gewissensfrage stellt der Regionalismus in Simulation autarker Kriegswirtschaft an die engagierte Gemeinschaft. Ein Wettlauf ideologisch motivierter Mangelernährung, an dem die ganze Bevölkerung sich beteiligen soll. Seit der Weltwirtschaftskrise baut Deutschland auf eben dieses Vertrauen der Bevölkerung in die politische Rücksichtslosigkeit nach außen durch moralische Geschlossenheit nach innen.

Anmerkungen:

(1) Dazu ist zu bemerken, dass die politische Aufladung des Essens nicht nur schwachsinnig ist, sondern in ihrer einzigen, tatsächlichen praktischen Konsequenz, nämlich dem Verzicht, zunächst eine Bedürfnisbeschneidung darstellt – selbst wenn dieselbe als Lust erfahren wird. Privaten kulinarischen Vorlieben jedoch eine moralische Legitimation, eine politische Relevanz zuzugestehen, um diese in den Stand eines politischen Urteils zu hieven, ist eine grauenhafte Pointe der scheinbar harmlosen politischen Privatisiererei, denn sie fordert Opfer, um der Prüfung der Opferbereitschaft selbst willen. Dabei ist „bewusste Ernährung“ weder Urteil noch tatsächliche Handlung, sondern hat eher die autistische Qualität einer manischen Ersatzhandlung.

(2) Wie der deutsche Judenmord mit der deutschen Infrastruktur zusammenhängt, also Auschwitz mit den Autobahnen, ist es naheliegend, dass die Diskussion um Abgase in der ökologischen Linken von der Assoziation mit der „Vergasung“ geprägt ist.

(3) Und weiter: „Da liegt Europa. Wie sieht es aus? / Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus. / Die Nationen schuften auf Rekord: / Export! Export! / Die andern! Die andern sollen kaufen! / Die andern sollen die Weine saufen! / Die andern sollen die Schiffe heuern! / Die andern sollen die Kohlen verfeuern! / Wir? / Zollhaus, Grenzpfahl und Einfuhrschein: / wir lassen nicht das geringste herein. / Wir nicht. Wir haben ein Ideal: / Wir hungern. Aber streng national.“ (Theobald Tiger: Europa, in: Die Weltbühne, 12.01.1932, Nr. 2, S. 73).

(4) Laut „Ernährungsreport 2017“ legen 73% der Befragten „Wert auf regionale Produkte“, während nur 35% angeben, sich „an bestimmten Siegeln“ zu orientieren.

Wir haben es tatsächlich lange Zeit versäumt, unsere Homepage aktuell zu halten. Aber jetzt, da Heft #09 fast fertig ist, ist es doch an der Zeit, auch hier darauf hinzuweisen, dass im Frühjahr 2018 Heft #08 erschienen ist:

Inhalt:

Das Heft kann über den ca-ira-Verlag bestellt werden.

Am kommenden Wochenende findet wieder die Linke Literaturmesse in Nürnberg statt, darunter Veranstaltungen mit vielsagenden Titeln wie „Deutschland raus aus der Nato! Nato raus aus Deutschland!“ oder die Buchvorstellung von „Legenden um Entebbe“, ein Weißwaschbuch über die Entführung überwiegend israelischer Geiseln durch Palästinenser und linke Deutsche. Ausfallen muss aber, weil von der Stadt untersagt, der antiisraelische Höhepunkt, nämlich die Ausstellung der „Kölner Klagemauer“. Um die Freude an selbstverständlich nur israelkritischen Judenkarikaturen gebracht, herrscht nun  reichlich Aufregung unter den Nürnberger Linken und im linken Verlagswesen .

Aus aktuellem Anlass empfehlen wir daher die Texte von Watch: Antisemitismus in Nürnberg.

 

Soeben ist Heft #07 der Zeitschrift Pólemos erschienen.

Inhalt:

Das Heft kann über den ca ira Verlag bestellt werden.

Mit Spannung wurde er anfangs erwartet und von Beobachtern geradezu bestürmt – der NSU-Prozess. Doch weil nur die Beweisaufnahme zu Taten, die über viele Jahre hinweg begangen wurden, noch langweiliger als Jura ist, verlor der Prozess recht bald an Interesse und Beobachtern. Bis dann im Herbst 2015 die Hauptangeklagte Zschäpe ankündigen ließ, aussagen zu wollen. Die Spannung und die Beobachter waren plötzlich wieder da und die FAZ berichtete im Live Blog – als hätte man erwarten dürfen, dass Zschäpe irgendetwas überraschendes sagt. Tatsächlich ist ihre Erklärung ein Abziehbild deutscher Familiengeschichten, denen zufolge man immer dagegen gewesen, aber eben auch ein Opfer der Verführung und das eigene Mitmachen beim Morden nur der unwillentliche und traurige Ausdruck unerfüllter Liebe gewesen sei.

Wie die deutsche Jugend während und nach dem ersten Weltkrieg hatte sie eine schwere Kindheit. Eine Mutter mit Alkohol- und eine Familie mit Geldproblemen habe sie gehabt, so Zschäpe in ihrer Erklärung, außerdem eine Beziehung mit Mundlos, als sie sich in Bönhardt verliebt habe, dessen Freundeskreis noch „intensiver nationalistisch“ gewesen sei als der des anderen Nazi Mundlos. Aufmerksam darauf hätten sie damals machen wollen, „dass es einen politischen Gegenspieler zu den Linken gibt“ – ein bisschen wie die auch etwas intensiver nationalistische NSDAP in den Weimarer Jahren. Von den ersten Raubüberfällen ihrer beiden Kumpane habe sie, natürlich ohne beteiligt gewesen zu sein, gewusst und ihr sei klargeworden, „dass es keinen Rückweg ins bürgerliche Leben gab“ – eine Lüge jener Sorte freilich, die ihre volle Unwahrheit erst dadurch enthüllt, dass die, welche sie spricht, daran glaubt. Denn natürlich hätte sie jeden Tag nein sagen können zum Leben im Untergrund, zur Gemeinschaft mit den Bankräubern, die schon bald Mörder werden sollten. Ende 2000 will sie vom ersten Mord erfahren haben, nicht aber von dessen „politischen“ Motiven. Sie habe sich stellen wollen, aber Mundlos und Bönhardt hätten damit gedroht, sich dann selbst zu töten. „Ich stand vor einem unlösbaren Problem. Sollte ich mich stellen, müsste ich den Tod der einzigen beiden Menschen auf mich nehmen, die mir neben meiner Oma wichtig waren“. Der Verrat an der Gemeinschaft mit den Mördern, zu denen sie zu keinem Zeitpunkt gehört haben will, hätte sie also erst selbst zu einer Mörderin werden lassen. „Die beiden waren doch eine Familie“ – und jeder weiß, dass man sich seine Familie nicht aussucht, sondern dass sie eine unbedingte Schicksalsgemeinschaft darstellt. Wollten nicht auch die deutschen Soldaten bei ihren Massakern im Kern nur ihre Familie beschützen, hatte nicht auch „die Geschichte“ den Deutschen ein Schicksal bereitet, in das sie sich widerwillig zu fügen hatten? „Ich gab mich dem Schicksal hin, weiter mit den beiden Männern zu leben“. Dabei war Zschäpe längst in die innere Migration geflüchtet: Ihr sei der Gedanke gekommen „wie gefühllos die beiden waren“ und ihr sei bewusstgeworden, dass „denen ein Menschenleben nichts wert war“. Was nur heißen kann: ihr angeblich schon, wenn auch nicht so viel, dass sie deswegen den Bruch mit den Mördern riskiert hätte. Natürlich habe sie im Vorfeld stets von nichts gewusst, auch wenn sich ihre Kameraden damit gebrüstet hätten, „vier weitere Ausländer umgelegt“ zu haben. Zwar habe sie sich daran „gewöhnt“ herumliegende Waffen ab und zu in den Schrank zu räumen, wie es Hausfrauen sonst mit den Socken ihrer Männer handhaben, „akzeptiert“ habe sie das aber nie – was auch immer das heißen mag. Dass sie zuletzt ein Haus abfackelte und die Propagandavideos des NSU verschickte, war freilich auch nur gut gemeint, denn dabei hatte sie „nur einen Gedanken: Ihren letzten Willen erfüllen“. War nicht auch die Mehrheit der Deutschen eigentlich immer gegen Hitler und hatte doch nur einen Gedanken: seinen Willen zu erfüllen, auf dass er, der sie ja doch nicht liebte, weil seine schicksalshafte Aufgabe ihn zur Gefühllosigkeit verurteilte, bei dem sie darum aber gar nicht anders konnten, als ihn nur umso mehr zu lieben? Und haben sich nicht auch die Deutschen in ihrer übergroßen Mehrheit, wie Zschäpe jetzt, „weder damals noch heute als Mitglied einer solchen Bewegung gesehen“? Nach Jahren eisernen Schweigens zu erklären, nicht gewusst haben zu können, was unübersehbar war und dabei doch immer dagegen gewesen zu sein, auch wenn gegen das Schicksal niemand etwas auszurichten vermag, ist altdeutsche Familientradition. Inzwischen hat sich Zschäpe bei den Opfern entschuldigt und könnte bald schon angesichts der von anderen aufgearbeiteten Morde erklären, wenn sie das ganze Ausmaß gekannt hätte, wäre sie gewiss widerständisch aktiv geworden. Der Weg ist vorgezeichnet: In ein paar Jahren könnte Zschäpe aufgrund ihrer vorbildlich aufgearbeiteten Vergangenheit zur Menschenrechtsbeauftragten in einem rot-grünen Kabinett ernannt werden. Und wenig später darf das ZDF in „Mein Mundlos, mein Bönhardt“ die herzzerreisende Geschichte einer Frau erzählen, die weder Opfer noch Täter und doch schuldlos auch ein bisschen von beidem war.

Alle Zitate stammen aus dem Live Blog der FAZ vom 9.Dezember 2015

Leo Elser

In der soeben erschienen Druckfassung der Pólemos #07 findet sich noch ein ausführlicher Artikel von Daniel Poensgen zum Verhältnis von Staat und NSU im postnazistischen Deutschland.